Eigentlich wollte ich ja über dieses unausgegorene Kopftuch-Urteil schreiben. Da ist doch kein Zack mehr bei Deutschlands Richtern. Wer die Adenauerzeit erlebt hat, weiß schließlich, was es heißt, einen demokratisch verfassten Gottesstaat genüsslich vom Schlingknoten der Kopftücher zu erdrosseln. Schon bei Hüsch am Niederrhein kommen sie vor, wo gelbes Licht sich eitel Heimat schimpft und die drei Kopftuchtanten aus der Apotheke winken. Mein Gott, ich seh' sie noch vor mir, die hageren alten Weiber mit karierten Blaudruck-Schürzen, Strickstrümpfen um die Krampfadern und Bunzlauer Keramik im Rotkäppchen-Flechtkorb. Dann fiel mir noch Tippi Hedren ein, wie sie von Hitchcocks Vögeln verfolgt im Cabrio rast - Schals sind im Cabrio ja nicht mehr so gefragt, seit sich der von Isadora Duncan in der Radnabe verfangen hat.
Schließlich ging mir aber irgendwie der Glossenstoff aus, ich erhob mich, tigerte durch meine kostspielige Bibliothek, zog die eine oder andere lederne Schwarte heraus. Und während ich unstet blätterte, weiteten sich meine Nasenflügel, das Kinn sackte herab, waschbrettförmigen Rillen werfend wölbte sich die Stirn und die Augäpfel traten aus rötlich geränderten Höhlen...
"Jedes Gesicht ist dumm, dessen Augen merklich weiter als eine Augenbreite von einander abstehen. Jedes Gesicht ist dumm, dessen Unterteil, von der Nase an gerechnet, sich durch die Mittellinie des Mundes in zwei gleiche Teile teilt. Jedes Gesicht ist dumm, das vom Augenwinkel an bis mitten an den Nasenflügel kürzer ist, als von dort zur Mundspitze. "Jetzt aber nicht gleich mit Wasserwaage und Winkeleisen vor dem Garderobenspiegel hantieren. Dafür ist nachher noch Zeit. Denken wir erst mal an Politikerfotos: "Wer mit schiefer Lippe zwecklos lächelt, wer oft isoliert ohne bestimmte Tendenz und Direktion steht; wer mit aufrechtem Körper, wenn er grüßt, nur den Kopf vorwärts nickend bewegt, ist ein Narr." Wir zitieren aus den Hundert physiognomischen Regeln des Johann Caspar Lavater (1741-1801), dusslig-frommer Schweizer, geachteter Zeitgenosse der Aufklärung, Autor illustrierter, von Goethe geschätzter Werke zur Charakterkunde. "Sei vorsichtig gegen jeden Leisesprecher und Scharfschreiber; gegen Wenigsprecher und Vielschreiber, gegen jeden Wenigsprecher und Viellächler, dessen Viellächeln nicht rein von Hohn und Verachtung ist. - Kurze Stirnen, stumpfe Nasen, sehr kleine Lippen oder dann vorstehende Unterlippen ..., ein aufstehendes, unten fest-fettes Kinn zeichnen sie aus."
Namentlich die Frauen kriegen in Lavaters Lebensfaustregeln ihr Fett weg: "Eitelkeit oder Stolz ist der allgemeine Charakter der Weiber" - so stand es ja bei fast allen damaligen Filousophen zu lesen. Lavater macht das überwiegend am Äußerlichen fest: "Weiber mit braunen, behaarten oder borstigen Warzen am Kinn, besonders am Unterteil des Kinnes, oder am Halse - sind zwar gemeiniglich wacker, tätig, gute Hausmütter, aber äußerst sanguinisch, und bis zur Narrheit, ja zur Tollheit verliebt. Sie schwatzen viel, und schwatzen gern nur von Einem. Sie dringen sich leicht auf und sind sehr schwer wieder wegzubringen. Man muss sie sehr schonend und ruhig-freundlich behandeln, und sie, mit sanft-kalter Würde, immer drei Schritte vom Leib entfernt zu halten suchen." Überhaupt Warzen sind immer verdächtig, so Lavater. "Wenn ihr sie auch an einem Weisen findet, so wird der gewiss häufigste Momente der völligsten Gedankenlosigkeit, Geistes-Absenz und einer unglaublichen Schwäche haben..."
Der bucklige Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) nannte Lavatern ob seiner kategorischen Sentenzen einen "Quacksalber" und schloss von der körperlichen Unzulänglichkeit auf das Gegenteil: "Sobald einer ein Gebrechen hat, hat er eine eigene Meinung!" In seiner Streitschrift Über Physiognomie; wider die Physiognomen machte er der frei assoziierenden Gesichtshermeneutik den Garaus: "Warum deutet ihr nicht kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern. Krankheiten des Kindbetts aus den Nasen?" Und mit seiner Abhandlung über Schwänze stellte Lichtenberg sein eigenes parodistisch gemeintes Tafelwerk auf, mit Silhouetten der verlängerten Hinterteile biomorpher Lebewesen, schön durchnummeriert und in lavaterischster Weise kommentiert. Dabei war Lichtenberg gar nicht grundsätzlich gegen die Semiologie des Allfälligen: "So erzählen die Schnitte auf dem Boden eines zinnenen Tellers die Geschichte aller Mahlzeiten, denen er je beigewohnt hat... Auch lag vermutlich das Schicksal Roms in dem Eingeweide des geschlachteten Tiers, aber der Betrüger der es darin zu lesen vorgab, sah es nicht darin. Also wird ja wohl der innere Mensch auf dem äußeren abgedruckt sein?... An der absoluten Lesbarkeit von allem in allem zweifelt niemand."
Heutzutage, wo Deutschland den Superstar sucht, wo auf Model (kurz zu lesen wie die O's in Bosnien-Herzegowina) genormte Pickeljünglinge und -mädels ihre Ralph-Siegel-Adaptionen möglichst Ralph-Siegel-gefällig vor Ralph Siegel und einer Ralph-Siegel-kompatiblen Jury produzieren, um fürs Casting Punkte zu sammeln, kann Lavater als Lehrbuch dienen. Wer ein paar sorgsam ausgetestete Fratzen einstudiert, erregt Aufmerksamkeit im Leerlauf der formierten Gesellschaft. Wo alles auf Äußerlichkeiten achtet, bediene man sich ihrer als Äußerungen. Lichtenberg erwähnt in seiner Streitschrift einen "jungen vortrefflichen Menschen", der sich "ein dezisives Aufwerfen des Kopfes und verachtendes Herabziehen der Mundwinkel, bei allem was er sagte, angewöhnt hatte". Arno Schmidt empfiehlt ostentatives Schlagen auf den Hinterkopf bei Verhandlungen zwischen Schriftsteller und Verleger. Auch bei der Jobsuche: Warum nicht z. B. zum Einstellungsgespräch mit rotem Stern am Revers erscheinen und beiläufig das Vorhaben der Gründung einer betrieblichen Roten Zelle einstreuen? Durchaus auch als werdende/r Richter/in beim Verfassungsgericht zu Karlsruhe. Man denke an Jutta Limbach, das Brillengestell und das komische Richterkäppi und das SPD-Parteibuch haben ihre Karriere jenseits der Pensionierungsgrenze beflügelt: Heute ist sie - viel, viel besser als "Oberste Richterin" - Vorsitzende des "Deutschen Sprachrats", der (analog zu Hartz, Rürup, Riester und Ethikrat) im neuen Schröderstaat für Ordnung im Formulierungsdschungel sorgen soll. Vom Barette schwankt die Feder. Darunter steckt immer ein kluges Kopftuch.
Nikolaus Gatter
www.lesefrucht.de
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