backWenn Schwitzen Spaß macht

Kaffe BurgerRussendisko

Rock, Ska, und russischer Reggae boomen unaufhaltsam in Berlin

Die Fensterscheiben der Tanzwirtschaft in der Berliner Torstraße sind beschlagen und vibrieren. Die Schlange vor dem Eingang bleibt bis weit in die Nacht hinein fast gleich lang, aber diejenigen, denen vorerst der Eintritt wegen Überfüllung verwehrt bleibt, sind geduldig und guter Dinge. Es ist Samstag, die Kneipe heißt „Kaffee Burger“ und die Zeremonienmeister im Inneren sind die DJs Wladimir Kaminer und Yuriy Gurzhy. Der Anlass für den regelmäßigen Ausnahmezustand in Berlin-Mitte heißt „Russendisko“ und boomt seit Veröffentlichung der gleichnamigen CD mehr denn je.

Von Claudia Frenzel

go! www.russendisko.de
Aktuelle CD:

„Russendisko Hits“ (Trikont, 2003)

Buchtipp:

Wladimir Kaminer: Russendisko.
  Manhattan-Verlag, München 2000.

Die „Russendisko“ war schon lange vor Erscheinen des gleichnamigen Samplers kein Geheimtipp mehr. Längst wird sie als Muss in Szene-Stadtführern geführt und reihen sich regelmäßig Touristen aus aller Welt in die Schlange vor dem Kaffee Burger. Man muss Zeit mitbringen für dieses Tanzvergnügen. Wenn man dann den charmanten Damen am Einlass, von denen Olga Kaminer eine ist, fünf Euro in die Hand gedrückt hat, öffnet sich die skurrile Welt des ehemaligen Ost-Cafés, von dessen einstigem Charme noch die schwere alte Blümchentapete zeugt. Im vorderen der beiden Räume sitzt man noch recht entspannt an den kleinen Sprelacart-Tischen, aber im zweiten Raum fallen die Hüllen mit jeder verstreichenden Stunde genauso schnell wie Temperaturen und Luftfeuchtigkeit steigen. Auf einer großen DJ GurzhyLeinwand laufen die sowjetischen Trickfilme, mit denen mancher derjenigen, die sich vor der Leinwand auf der Tanzfläche drängen, aufgewachsen ist. Selbst wenn es für Berliner Nightlife-Verhältnisse noch sehr früh ist, sind die ersten auf der Tanzfläche bereits bis auf die Haut nassgeschwitzt und den Neuankommenden bereits einige Bier- oder Wodkalängen voraus.

Etwas versteckt in der Ecke an einem kleinen Tresen stehen die beiden Herren, die es scheinbar ohne jegliche Mühe schaffen, das Publikum sofort in Verzückung und Partystimmung zu versetzen. Wladimir Kaminer, der ursprünglich aus Moskau kommt und inzwischen einer der angesagtesten Berliner Erzählautoren ist, und sein Kollege Yuriy Gurzhy, der aus Charkov in der Ukraine stammt und in der Band Rot Front spielt, entlocken ihren kleinen Minidisc-Playern ein Kultstück nach dem anderen. Von Rock, Ska und russischem Reggae, vom Volkslied in der Punkversion bis zur Discoschnulze haben sie all das im Gepäck, wozu man nur eines kann – tanzen. Qualitätssiegel für die Auswahl der Musik sind, dass die Musik mit Live-Instrumenten gemacht wurde und Gitarren, Schlagzeug und nach Möglichkeit viele Bläser darin vorkommen. „Also eigentlich das, was man so grob als Punk bezeichnen kann“, erklärt Yuriy Gurzhy in wenigen Sätzen das Konzept. Ob der Titel dann ein richtiger Hit bei MTV Russia ist, oder aus dem Underground kommt, spielt dabei für die beiden DJs keine Rolle. „Für uns macht das keinen Unterschied, wenn sie rocken und wenn sie von der Stilrichtung her passen, dann spielen wir sie.“ Gesungen wird bei den Stücken Russisch im weiteren Sinne, denn estnische, ukrainische oder litauische Musik ist ebenso zulässig, wenn auch immer noch etwas Mangelware. Selbst die Besucher, die außer Nastrowje kein einziges russisches Wort können, amüsieren sich prächtig.

PublikumKaminers Frau erfindet die Russendisko

Die Anfänge der Russendisko gehen in das Jahr 1999 zurück. Kaminer und Gurzhy lernten sich 1997 bei einem Konzert in Berlin kennen. „Ich habe damals in der Berliner Band Unterwasser gespielt und Wladimir, der die Leute noch von früher kannte, wurde eingeladen das Konzert zu filmen, denn er war der Einzige im Freundeskreis, der eine Kamera besaß. Am nächsten Tag haben wir das Video bei ihm angeschaut und ich habe seine Plattensammlung entdeckt und ein paar CDs von ihm ausgeliehen“, erzählt Yuriy Gurzhy. Kaminer und DJ GurzhyDaraus entwickelte sich ein zweijähriger intensiver Musikaustausch zwischen dem Russen und dem Ukrainer. Sie brachten nicht selten Stunden damit zu, Musik zu hören und aufzunehmen. „Irgendwann meinte Olga, die Frau von Kaminer: Warum veranstaltet ihr nicht eine Party, wenn ihr so viel Zeit damit verbringt Musik auszutauschen“, lüftet Gurzhy das Geheimnis um den Beginn einer der angesagtesten Szene-Partys Berlins. Im November 1999 fand somit ganz spontan die erste Party, damals noch im Café des autonomen Kulturzentrums Tacheles, statt. Die ersten „Russendiskos“ waren klein. In erster Linie kamen Freunde der DJs, aber schnell sprach sich herum, was geboten wurde. „Es gab nur drei, vier Poster und gelegentlich einen Trailer beim Radio – es gab praktisch keine Werbung, aber es lief richtig gut. Das hat uns schon sehr überrascht.“ Im Jahr 2000 zog man ins „Kaffee Burger“ um und alle zwei Wochen kamen ein paar Leute mehr, um zu russischem Rock und Punk zu tanzen. Nach Erscheinen des gleichnamigen Buches „Russendisko“ von Wladimir Kaminer im Sommer 2002 kamen immer mehr Leute, um zu sehen, wie das, was sie im Buch über die Berliner Russen gelesen hatten, tatsächlich aussieht.

DIVERSE
„Russendisko Hits“

(Trikont, 2003)
16 Tracks, 48:58; mit sehr ausführl. Booklet

Eigentlich muss man all jenen danken, die Wladimir Kaminer und Yuriy Gurzhy so lange Löcher über Herkunft und Bezugsmöglichkeiten der Hits der Russendisko in den Bauch gefragt haben, bis diese die Kompilation zusammenstellten. Auf der CD finden sich nämlich etliche Leckerbissen, an die man hierzulande nur schwer kommt, die man nicht kennt und die es wert sind, hier endlich bekannt zu werden. Die Songs sind entsprechend dem Russendiskoformat ausgewählt und demzufolge skalastig, rockig und punkig. Neben Bands, die bereits regelmäßig in Westeuropa touren, wie Markscheider Kunst, den Skameistern Spitfire oder dem Kultmusiker Leonid Soybelman (Ne Zhdali) finden wir jede Menge brillante Newcomer – zumindest für den Westen. Seien es Nugu Svelo aus Moskau mit ihrem witzigen Alternativ-Rock, die Red Elvises, angeblich aus Sibirien kommende Russen, die in Los Angeles leben, oder die hierzulande ebenfalls weitestgehend unbekannten großen Stars der russischen Rockszene, Leningrad. Die Kompilation zeigt, dass es auf alles, was die westliche Musikwelt an Hits hervorgebracht hat, eine Antwort aus der ehemaligen Sowjetunion gibt und dass kein Klischee so falsch ist wie das der „Russischen Seele“. So stellen wir fest, dass die russische Antwort auf die Sex Pistols Leningrad und die Antwort auf Elvis Red Elvises heißt, Bob Marleys Enkel aus St. Petersburg kommen und Markscheider Kunst heißen und der Kraftwerkhit „Die Roboter“ selten so witzig gecovert wurde wie von Rot Front.

Stammgäste der Russendisko haben die CD längst im Regal stehen, und wer die CD hört, wird in den meisten Fällen bald Stammgast der Russendisko. Für Sammler echter osteuropäischer Musik ein Muss!

Claudia Frenzel

 

DIVERSE - Russendisko Hits


zurück


Home


vor


!!!

Folker! - ...und immer noch: über 40% sparen beim Folker!-Schnupperabo!
Also auf zur von-uns-für-euch-Schnupper-Abo-Test-Bestellung!

Mehr über Russendisko
im Folker! 3/2003