Die Geschichte des Buena Vista Social Club ist eine Chronologie der Zufälle und Unfälle. Es hatte alles ganz anders kommen sollen, stattdessen kam alles viel besser. Mehr als sechs Millionen Stück des schon jetzt legendären Albums sind inzwischen verkauft, und der Refrain des Hits Chan Chan wird in Südafrika ebenso mitgesungen wie in Norwegen oder Japan. Die Geschichte des Buena Vista Social Club ist aber auch eine Romanze vom späten Lebensglück einer Rentner-Band, die zur Wilderei in einem der letzten kommunistischen Reservate der Welt anstiftete. Und dann, Kursivdruck beachten, gibt es noch die Geschichte vom Buena Vista Social Club, einst ein Traum nur, dessen erste Bilder sich verwässert in den 70ern zeigten und der so lange und so konsequent weiter geträumt wurde, bis er eines Tages zur hochprozentigen Realität destillierte.
Von Luigi Lauer
Der Träumer heißt Juan de Marcos González und ist durch und durch Realist. Für einen Technologie-Studenten, der er Anfang der 70er in Havanna ist, nichts Besonderes. Und doch ist er anders als seine Kommilitonen der westlichen Welt. Denn statt zu rebellieren, Jimi Hendrix' ätzende Version der amerikanischen Nationalhymne zu lieben und den Geist der im relativ nahen San Francisco brodelnden Flower-Power-Bewegung zu atmen, sitzt er zuhause bei seinen Eltern und hört sich Stunde um Stunde deren Platten an. Es ist die Musik aus der Zeit, da man sich die Gitarrensaiten vergolden ließ und Kubas größte Stars wie Benny Moré, Arsenio Rodríguez oder Cha-Cha-Cha-Erfinder Enrique Jorrín in der ganzen Welt herumgereicht wurden. Die High Society scheute keine Kosten, die Besten als Prestigeobjekt aufspielen zu lassen. Man sieht sich in Havanna: Die ganze Stadt ein einziges Spielcasino, ein entfesseltes Las Vegas, atemraubende Korruption, die Mafia außer Rand und Band. Havanna ist reich, wenn auch nicht für jeden: Kubaner verdingen sich als Dienstboten, Kubanerinnen als Prostituierte - kein Grund zur Nostalgie. Selbst vielen US-Amerikanern geht das zu weit, während "Papa" Hemingway sich ungestört volllaufen lässt und mit alten Männern auf dem Meer fischt. Cuba Libre.
Juan de Marcos González sitzt kaum 20 Jahre später zuhause und hört die Musik aus dieser so widersprüchlichen Zeit. Und er liebt diese Musik! Gesungen hat er die alten Lieder schon als kleines Kind, nun lernt er die Tres zu spielen, eine Mini-Gitarre mit drei Doppelsaiten, und beschließt, eine Band zu gründen: Sein Traum wagt sich in die Realität. "Sierra Maestra" wird er heißen, benannt nach Kubas höchstem Gebirgszug, benannt nach der Gegend, in der auch der Son seinen Ursprung hat, und benannt nach dem Ort, wo Fidel Castro seine Revolutionäre sammelte und schulte und 1959, im zweiten Anlauf, die ganze amerikanische Mischpoke von Bord spülte. González will zu diesem Zeitpunkt vor allem dies: den original kubanischen Son spielen, den "Son auténtico", die Ursuppe der späteren Salsa, im klassischen Sextett. Omara Portuondo, eine gute Freundin von Juan de Marcos González seit den frühen Tagen von Sierra Maestra, betont gerne die Bedeutung der Band: "Es war das Wichtigste, was in dieser Zeit passierte. Sierra Maestra haben angefangen, die traditionellste Musik Kubas wieder auszugraben und zu spielen. Das ist das größte Verdienst, die größte Bedeutung von Sierra Maestra. Es war etwas sehr Besonderes, und es hat den Leuten sehr gut gefallen, viele junge Menschen taten es ihnen gleich. Es war wie ein Zurückgehen zur traditionellen Musik, aber mit jungen Leuten." Das eine Ende der Geschichte kommt ins Rollen.
Ihr anderes Ende findet sich in London und heißt Nick Gold. Er studiert afrikanische Geschichte in dieser Zeit, und viel lieber vor Ort als im Hörsaal. Er reist nach Israel, Ägypten, Sudan. Irgendwann ein Schwenk, er entscheidet sich, ein Lehramtsstudium zu beginnen, doch auch das währt nicht lange. Denn zufällig lernt er Anne Hunter und Mary Ferguson kennen, deren Firma Arts Worldwide Konzerte von nicht-westlichen Bands in England organisiert. Da die Konzertbesucher immer öfter nach Aufnahmen dieser Bands fragen, beschließen die beiden, eine Plattenfirma zu gründen: World Circuit. Schon nach dem ersten Album stößt Nick Gold hinzu, er wird der Mann für alle Fälle, der Job gefällt ihm, er schmeißt auch das Lehramtsstudium. Und als sich die Damen nach und nach anderweitig orientieren, übernimmt er den Laden. Nach einigen Lizenzveröffentlichungen kommt bei World Circuit das erste Studioalbum heraus, aufgenommen in London, mit Arsenio Rodríguez und - Sierra Maestra. Schon diese Produktion beginnt mit einer Katastrophe, denn Juan de Marcos González vergisst die fertigen Arrangements in einer der hübschen roten Telefonzellen Londons - der Anfang eines roten Fadens, der Startpunkt von Murphys Gesetz: Was schief gehen kann, geht schief.
Nur wenige Jahre später, 1993, wird der Faden in Havanna weitergesponnen. Juan de Marcos González' Traum wird ein weiteres Stück Realität, als er eine eigene Radioshow im staatlichen Rundfunk startet. Sie ist den großen Namen der kubanischen Musik gewidmet, denen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in Kuba Star-Status genossen, und sie heißt auch so: Mit den alten Stars reden. Die Sendung kommt gut an, viele der fast in Vergessenheit geratenen Musikerinnen und Musiker finden eine kleine Plattform, sich in Erinnerung zu bringen und den Glanz des einstigen Ruhmes wenigstens in ihren Augen und Ohren wieder aufleben zu lassen. Für zahlreiche junge Menschen, in den Städten zumal, ist es der erste Kontakt mit der vorrevolutionären, traditionellen kubanischen Musik. González gewinnt die zweite Runde gegen das Vergessen. Wichtiger aber noch: Es ist diese Radio-Sendung, die ihn weiter träumen lässt, nämlich davon, all die lebenden Legenden noch einmal zusammen zu bringen. Einige von ihnen sind sogar noch aktiv, im Tropicana in Havanna, wo spätere Buena-Vista-Musiker wie Guajiro Mirabal, Cachaito López oder Omara Portuondo die Touristenattraktion Nummer 1 der Hauptstadt mit dem Sound der Nostalgie versorgen - während bildschöne Jineteras, Prostituierte, relativ leichtes Spiel haben, den Herren eine Untreue-Prämie zu entlocken. In Dollar, versteht sich, so viel Kontinuität muss sein. Doch die Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs in Kuba ist gekommen: Das US-Embargo sorgt für empfindliche Versorgungslücken, und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der DDR bleibt Castro keine Wahl, als den "Fidelismus" zu lockern und ausländische Investoren anzuwerben. Für Castros stundenlange Reden haben die allerdings kein Ohr. Time is money statt socialismo o muerte. Die karibische Lebensart auf der schönen Insel passt allenfalls der Tourismus-Industrie ins Konzept. Und die verzeichnet, nicht zuletzt dank Buena Vista, traumhafte Zuwachsraten.
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