backFerner liefen...

Es ist noch gar nicht lange her, hub der Großonkel an, da war die Leitkultur in diesem unserem Lande noch ein eitel Singen und Sagen. Mit spitzer Feder ward gegen die herrschenden Verhältnisse einer gar nicht mehr so heilen Welt angeklampft. Kolonnen uniformierter Nonkonformisten im Unisex-Look marschierten sprechchöregellend durch die noch kaum verkehrsberuhigten Einkaufszonen; politisch Lied war angesagt, garstig wie die Prosa der Verhältnisse, an die zu gewöhnen man sich abgewöhnt hatte.

Der Großonkel seufzte tief, hob den Zwicker in Augenhöhe und wischte mit dem Ärmel drüber. Dann, liebe Kinder, brach die Ära der Frühstücksgedichte aus. Neue Sensibilität, Seeleninventur und Esoterik legten sich wie Mehltau auf kritisch-engagierte Streitkultur. Flächendeckend hagelte es "Lebenstexte" von Leuten, die wieder "Ich" sagen durften und sich vorwiegend um Probleme gehemmter Innerlichkeit kümmerten, um Verschriftung der Schwierigkeiten beim Schreiben und die ewige Suche nach dem Sein.

Ich übergehe die Friedensbewegung, räumte der Großonkel nicht ohne bedauerndes Schulterzucken ein, als Engagement und Lebenstexte eine unheilige Allianz miteinander eingingen, als uns apokalyptische Visionen heimsuchten, als man diskutierte, ob die Zivilisation unter ewigem Eis erstarren oder nach dem Schmelzen der Polkappen überflutet würde, ich übergehe den Sauren Regen, das Einführen der Mülltrennung, die Werner-Comics und das Barschel-Ehrenwort, ich übergehe sechzehn Jahre Kohl-Ära mit Bitburg und Kießling, "Schlesien bleibt unser" und Spendermilliarden. In der Zeit waren Blödel und Comedy angesagt, fuhr der Großonkel fort, dass der Papst auf dem Tisch tanzte und kein Auge trocken blieb. Steifes Ensemblekabarett mit Krawattenzwang wurde von pointendreschender Standby-Komik, von Sitcom-Klamauk und Stunksitzung abgelöst. Clownsschulen schossen wie Pilze aus dem Boden, allenthalben regierte der Seich, nach Otto kam Hape Kerkeling, die sog. Neue Frankfurter Schule trat das Erbe der "pardon" an. Selbst Politiker wandelten auf parodistischen Pfaden, ernteten Orden wider den tierischen Ernst, und zum Schluss konnte sich kein Generalsekretär und kein Tagesschausprecher mehr den kleinen satirischen Schlenker verkneifen.

Endlich aber, schloss der Großonkel mit gedämpfter Stimme, kam die rotgrüne Koalition ans Ruder: Ehemalige 68er priesen die Mitte und den entfesselten Markt als neues Reich der Freiheit, kriegerische Exkursionen der Bundeswehr ins Ausland erhielten das moralische Einwandfrei-Etikett, als ewiges Öllämpchen transzendenter Hoffnung winkte der Atomausstieg im Jahr 2102. Was, fragten sich viele, war denn anders geworden unter der neuen Regierung? Doch, etwas änderte sich. Ein Reformprojekt wurde, allen Zauderern und Querulanten und Ewiggestrigen zum Trotz, ganz im Gegensatz zum Urheberrecht gnadenlos konsequent durchgezogen: die Schlechtbleibreform. Was aber, wollte der Großonkel wissen, aber es war eine rhetorische Frage, was, frage ich, wenn die Kreativen den Laden plötzlich dichtgemacht hätte? Wenn die Malerinnen und Maler ihre Pinsel und die Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente weggelegt hätten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Kladden zugeklappt, Kritikerinnen und Kritiker sich endlich eine anständige Arbeit gesucht hätten? Finito, basta und aus? Schluss mit lustig? Schotten dicht? Ende der Durchsage? Ihr könnt uns mal?

Dann würde, so der Großonkel, endlich die Buchmesse ausfallen, auf Opern- und Theaterbühnen fiele der Vorhang für immer, Tourneen müssten abgesagt und Feuilletons eingestellt werden, Playstations liefen leer, Rundfunk und Fernsehen sendeten stundenlang Pausenzeichen, Kulturämter und Stiftungen wüssten nicht wohin mit den Geldern, Preise würden angeboten wie sauer Bier, Ateliers und Aufnahmestudios lägen verwaist da, der ganze verdammte Kulturbetrieb würde einfach ausrollen und endlich zum Stillstand kommen, und wenn dabei wirklich alle, alle mitmachen würden, dann, aber nur dann -

...aber in diesem Moment kam die Großtante zur Tür herein, die Schüssel mit dampfenden Knödeln auf dem Tablett, der Großonkel schob beleidigt die Unterlippe vor und wir Kinder setzten uns wie jeden Abend vor gefüllte Teller, falteten die Patschhändchen und begannen gesenkten Hauptes das Tischgebet zu sprechen: "Lieber Gott, vermehre unsern Kredit oder vermindere den Appetit; wir bitten Dich nur um das Nötigste, aber davon muss uns reichlich geboten werden; wir bitten Dich nicht um materielle Güter, zeig uns nur, wo sie zu holen sind, und wenn's dich wirklich gibt, rette unsre Seelen, falls wir eine haben..."

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


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