Von Ulrike Zöller
Zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 2000 hat das Berliner Phonogramm-Archiv ein 264-seitiges Buch und eine 4-CD-Box herausgegeben, die seine Sammlungen der traditionellen Musik der Welt dokumentieren. CDs, Booklet und Dokumentation geben einen genauen Einblick in die Arbeit und die geschichtliche Entwicklung des Archivs.
Sehr geehrter Herr, erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle. Ich bin Professor, an der Königlich ungarischen Musikakademie zu Budapest, und befasse mich in meinen freien Stunden viel mit Musikfolklore, und zwar als Sammler. Ich habe bis jetzt beinahe 1000 Phonograph-Walzen-Aufnahmen dem Ethnographischen Museum zu Budapest geliefert ... Wie wir wissen, verfertigt Ihr Phonogramm-Archiv von den Phonograph-Aufnahmen Copien, welche es zum Austausch mit anderen Instituten verwendet. Nun möchte unser Institut ebenfalls mit einigen Instituten in ein derartiges Tauschverhältnis treten. Doch wissen wir nicht, wie und wo solche Copien verfertigt werden können und wie hoch die Kosten des Verfahrens sind? Nun bitten wir Sie um die besondere Güte, mir darüber Auskunft zu erteilen.
Hochachtungsvoll |
Nicht nur Béla Bartók konnte geholfen werden, auch der Adressat des Briefes zog aus dem Gefallen an den Komponisten und Sammlern von Musikfolklore durchaus Nutzen: Zehn der Wachswalzen-Aufnahmen, die Bartók in Rumänien produziert hatte, wurden dem Berliner Phonogramm-Archiv geschenkt nur ein kleiner Teil der umfangreichen Sammlung, die in den letzten mehr als 100 Jahren entstanden ist. Seit einigen Monaten ist es nun möglich, sich über Geschichte und Ziele der Sammlung näher zu informieren und beispielsweise Erinnerungen und Briefwechsel der Welt-Musiksammler und Wissenschaftler zweier Jahrhunderte zu verfolgen. Dabei ist die Buch-Dokumentation nicht unbedingt das, was man gemeinhin als Kaminlektüre empfehlen kann: Ein Sammelsurium an aktuellen Aufsätzen, historischen Abrissen, Briefwechseln, trockenen Wissenschaftsberichten und Inventarlisten ist nicht gerade unterhaltsam, dafür aber umso aufschlussreicher und spannender als Spiegel der Weltmusikbetrachtung vergangener und heutiger Zeit.
4-CD-Box
Berliner Phonogramm-Archiv: |
Buch:
Das Berliner Phonogramm-Archiv 1900-2000 |
www.fczb.de/Webs/voelker/music.htm |
Wie ging man um 1900 mit dem Thema Musik der Welt um? Zunächst: Auch nicht anders als ein Durchschnitts-Journalist im Jahr 2002. Man dokumentiert das, was einem auf einem Festival angeboten wird. So wurde das Berliner Phonogramm-Archiv mit einer Aufnahme aus Berlin(!) begründet. Im September 1900 reiste ein Theaterensemble aus Bangkok in die Hauptstadt, um auf der Bühne im Zoologischen Garten ein Gastspiel zu geben. Der Psychologieprofessor Carl Stumpf nahm diesen Auftritt mit einem Edison-Phonographen auf Wachswalzen auf und fasste bald darauf den Entschluss, diese und die folgenden Audio-Dokumente traditioneller Musik in einem Universitäts-Archiv zentral verwalten und bearbeiten zu lassen. Dass ein Psychologe die Arbeit eines Musikethnologen übernahm, hatte einen einfachen Grund: Man ging als Psychologe der Jahrhundertwende weitgehend anthropologisch vor, interessierte sich dafür, wie verschiedene Menschen an unterschiedlichen Orten bzw. unterschiedlicher Herkunft leben, wie sie sich verhalten. Immerhin hat es das Phonogramm-Archiv 1933 unter der späteren Leitung von Erich Moritz von Hornbostel zu einer der größten Sammlungen der Vergleichenden Musikwissenschaft gebracht. Die Aufnahmen in den darauffolgenden Jahren folgten dann Feldaufnahmen aus aller Welt wurden unter musikpsychologischen, ethnologischen und musikanalytischen Gesichtspunkten untersucht.
Fassen wir kurz die Probleme zusammen, die heute für die vergleichende Musikwissenschaft im Vordergrunde des Interesses stehen. Es sind dies die Fragen nach der relativen Bedeutung des Konsonanz und des Distanzprinzips, nach der Entstehung der Leitern, nach der Auffassung melodischer Beziehungen, der Klangverwandtschaft und Tonalität in homophoner Musik...
Die in dem Artikel Die Erhaltung der ungeschriebenen Musik von Erich Moritz von Hornbostel gestellte Forderung, sich eingehend mit musikanalytischen Einzelheiten der exotischen Musik zu befassen, dient nicht dem Selbstzweck des musikalischen Erbsenzählens: Die musikalischen Analysen bilden eine Voraussetzung für die Arbeit der Psychologie.
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