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"und suchen viele Künste"
Matthias Claudius: Abendlied

Die Welt ist auch nicht mehr das, was sie war. Menschen wenden uns den Rücken zu. Sie heben den Arm, in der Hand eine Milchtüte. Die Kamera folgt ihrer Blickrichtung. Die Milchtüte verdeckt in Sichthöhe einen Teil von dem, was wir und was sie wahrnehmen. Den Sorgenteil. Die Bügelwäsche. Den Lover der Strandnixe. Die Lücke in der Skyline. Eine herbstliche Plakataktion zum Thema Trinkt mehr Milch – Milch macht das Leben schön. Seit sechs Wochen gucken wir geflissentlich weg, blenden die fehlende Stelle, den Riss in der Fassade, die rauchenden Türme, die Menschenschutthalde mit der Tuffi-Milchtüte aus.

Pass auf, watte sachs, Künstler. An den Bundesgerichtshof. 76125 Karlsruhe. Bundesanwaltschaft. Z. Hd. Herrn Kay Nehm. Sehr geehrter Herr Generalbundesanwalt. Betr. Zielfahndung nach in Deutschland tätigen geistigen Drahtziehern und Hintermännern des Anschlags vom 11.9. in New York City fordere ich auf, die sofortige Festnahme des Satirikers Thomas Gsella, mutmaßlich wohnhaft in Frankfurt a. M., zu veranlassen. Haftgrund: Verdunklungsgefahr. Indizienkette: Gsella, ehemals Essen, ist nicht bloß Beiträger eines im Ruhrgebiet erscheinenden "Szene"(!)-Magazins namens MARABO (Verbindung nach Dortmund?), sondern auch Redakteur der periodisch erscheinende Druckschrift Titanic. In dieser Eigenschaft veröffentlichte er in Nr 9, September 2001, S. 48f. einen "marxistischen Essay" u. d. T. "Schwarzbuch Globalisierung". Es heißt dort wörtlich: "Als zum Ende des zweiten Milleniums das World Trade Center 'hochgeht', mehren sich mählich auch die Stimmen der Verzweiflung. 'Alle tot', heult noch am Tatabend der zuständige Moderator, die Rede ist von keiner schönen Geste." Das Heft lag am 31. August an Kiosken aus. Ich frage: Welche Verbindungen unterhält Gsella zu islamischen Tarnorganisationen? War er – und wie lange – an der TH Hamburg-Harburg immatrikuliert? Nahm er in Kalifornien an einem Fluglehrgang teil? Woher konnte der Gsella wissen, was sich elf Tage später ereignen würde, wenn er nicht selbst geistiger Urheber der Tat war? Könnte er nicht wegen vorgreifender Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener belangt werden?

Die Stadt Kürten prüft die Möglichkeit, Karlheinz Stockhausen die Ehrenbürgerwürde zu entziehen. Dessen Töchter erwägen, den Namen Stockhausen nicht länger in der Öffentlichkeit zu führen. Györgi Ligeti schlägt vor, Karlheinz Stockhausen in die Klapsmühle einweisen zu lassen. Weil er aus der Rolle gefallen ist. Weil er das böse Wort gesagt hat. Weil er auf den Punkt bringt, was passiert ist und wie wir's wahrgenommen haben: "Kunstwerk." Inszeniert zur bestglobalen Sendezeit (US-Frühstücksfernsehen und Europas Kinder-TV-Nachmittagsstunde), der zweite Anflug kameragerecht zum Zugucken, keine Computer-Animation, alles echt und in dutzendfacher Wiederholung, anderntags die Zeitungsfotos, farbige Sonderbeilagen, spaltenlanger freier Fall aus brennenden Etagen, für die Buchmesse sind schon Bildbände in Vorbereitung. Alle, alle durften (und manche geben's zu) wohliges Entsetzen spüren, nicht selber im Flieger, im Turm oder in der Haut der Betroffenen zu stecken: ein globales Kunstwerk, perfekt inszeniert, angefangen bei der Selbstdarstellung der Urheber. Als ihre Passfotos entstanden, inszenierten sie sich, ihres Vorhabens bewusst (und dessen, was danach von ihnen übrigbleiben würde), wie's der Spießer im schönsten Gruseltraum nicht passender ersinnen kann: grimmiges Konterfei, stechender Blick, schmierige Haare..., und als wäre der Steckbrief noch nötig, gucken sie aus der Weltwoche.

Warum spielen alle mit? Warum liegen in den Sendeanstalten schon die Betroffenheitsformate bereit, während in den Bombenkriegen des letzten Jahrzehnts fröhliche Weisen gespielt wurden? Tschernobyl vergessen, Seveso verwelkt, Kennedy begraben – das erste Kollektiv-Erleben des 21. Jahrhunderts, und doch bleibt der Geschmack nach Pappmaché, der vage Eindruck des Theatralischen, des "Kunstwerks". Die anachronistische Radaurhetorik verdutzter Kriegsherren, die ihres Handwerkszeugs nicht mehr ganz sicher sind. Wozu überhaupt ein "Codename", wenn er vorher in den Medien breitgetreten wird, von der grenzenlosen Selbstgerechtigkeit bis zur unendlichen Beinfreiheit. Es ist Sarajewo 1914, wir warten noch aufs Christkind und kein Mensch kann die Tragweite ermessen. Pakistan hat Atomwaffen. Wer weiß, ob sonst nicht Afghanistan seit dem 12.11. einen weiträumigen Krater abgegeben hätte, vom Mond aus mit bloßem Auge erkennbar.

"Doch kommt ein Krieg. Zu lange war schon Frieden. Dann ist der Spaß vorbei." Damals, Monate und Jahre vor WK Eins, schrieben die Dichter vom Weltkrieg, quälten sich Visionen von Fliegerbomben und Massengräbern ab, und kein Mensch hat ihnen geglaubt. "Du frierst in Zelten. Dir ist heiß. Du hungerst. Ertrinkst. Zerknallst. Verblutest. Äcker röcheln. Kirchtürme stürzen. Fernen sind in Flammen. Die Winde zucken. Große Städte krachen. Am Horizont steht der Kanonendonner. Rings aus den Hügeln steigt ein weißer Dampf / Und dir zu Häupten platzen die Granaten." Albert Ehrenstein im Herbst 1913. Man nennt es Morphologie – ein Wahrnehmungsphänomen, wie die neuen Kleider des Kaisers. Manche spüren strukturelle Verwerfungen in Voraus und geben Zeichen, gestikulieren hilflos. Einerseits sind sie Beteiligte, werkeln tapfer weiter an den Illusionen. Andererseits glaubt ihnen sowieso kein Mensch. Denn Wahrheit ist bekanntlich die beste Tarnung.

Wim Wenders meint, künftig könnten Katastrophenfilme keine Kasse mehr machen. Michael Douglas hält dagegen: Gerade jetzt bräuchten die Menschen Stärkung und Trost durch Hollywood. Ein Kölner Kleintheater inserierte schon am Tag danach die Repertoire-Vorstellung unter der Überschrift "Wir trotzen der Gewalt!" Susan Sontag fürchtet, die Intellektuellen könnten das Denken einstellen. (Meinen Lottoschein würde ich ja nun auch nicht gleich von Thomas Gsella ausfüllen lassen.) Schröder rät der Wirtschaft, frohgemut in die Hände zu spucken. Bob Dylan weiß nicht mal, was in Genua los war, und guckt nur Schwarzweißfilme – ob der überhaupt schon auf dem Laufenden ist? Vielleicht hat er ja recht. Die Welt macht weiter wie gewohnt, und ist aufs i-Tüpfelchen genau wie zuvor. Nur fehlen jene Fünftausend, die – nach Stockhausens Worten – "zum Konzert nicht eingeladen waren". Sind wir es denn, weil wir nun dem Geheul der Schwarzweiß-Seher und Besserwisser lauschen müssen? Und ein paar Zerquetschte. Sinnhuber, Gotteskrieger, Rasterfahndies und die großen Suppenköche, deren Stunde jetzt geschlagen hat, können mir gestohlen bleiben. Her mit der Milchtüte.

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


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