backFerner liefen...

Der Hochsommer bringt, wie bereits angemerkt, ein dem Glossenverfassen nicht eben günstiges Klima mit sich. Doch mittlerweile geht's wieder, danke der Nachfrage. "Die Energie kommt langsam zurück, und ich versuche, allmählich wieder, ich selbst zu werden." Wenn es nur das wäre: "Ich habe auch Schwierigkeiten mit meiner Schulter und den Bandscheiben", ja, mir fiel "selbst das Umblättern einer Buchseite unendlich schwer, ich konnte kaum mehr Treppen steigen, und zehn Meter zu gehen wurde zum großen Problem". So jedenfalls Keith Jarrett über sein chronisches Erschöpfungssyndrom, das auch mir mit fortschreitender Lebensmitte(l)krise zu schaffen macht. Am besten hielte man sich an den Ratschlag "üben, üben, üben" von Wolfgang Neuss, der zweieinhalb bühnenabstinente Jahrzehnte als Frühstücksdirektor die Welt regierte. Auch Keith Jarrett "musste praktisch wieder vom Nullpunkt mit dem Klavierspielen beginnen... Ich musste wirklich üben, was ich früher nie getan habe, allenfalls, um etwas aufzupolieren." Hoffentlich schadet das nicht der Rekonvaleszenz: "Ich merke, dass es überhaupt nicht nötig ist, mehr als eine Sache zur gleichen Zeit zu tun... Jetzt tue ich nur noch, was mir im Moment am wichtigsten erscheint", d. h. gesund werden, üben, auftreten, aufnehmen und Memoiren schreiben: "Das beginnt mit der Kindheit, und jetzt nach einhundertzwanzig Seiten bin ich bei den achtziger Jahren." Möge das Vorhaben mit gleichbleibendem Tempo fortschreiten – wenn's nur keine klassische Wie-ich-den-Krebs-überwand-Autobio wird!

Okay, immerzu lamentieren und herumstänkern wär' auch destruktiv. Man soll auch am Anfang vom Schluss die gute, wahre, schöne Meldung gelten lassen. Weisen wir an dieser Stelle ruhig mal darauf hin, dass Keith Jarrett wieder auftritt, zumindest im Trio, dass daher Jazz noch Zukunft hat, wie er im FAZ-Feuilleton verkündet, dass die Eifelvulkane noch immer kein Feuer spucken wollen, und dass auch ohne öffentlich-rechtliche Live-Übertragung alle Fußballspiele für 50 Prozent aller Mannschaften gut ausgehen. Und diese Frohbotschaft mag Blindligisten und Nichtdekodierer jener Mysterien, deren alleinseligmachender Zeremonienmeister nunmehr passend "Kirch" heißt, ebenfalls trösten: der WDR hat das neuere deutschsprachige Liedgut wiederentdeckt. Nach sieben mageren Jahren, in denen auf rheinisch-westfälischen Radiowellen esoterisch-subtilste Globalfolklore einer-, dumpf schenkelklopfende Bierzeltcomedy andererseits vorherrschten, gibt auch dieser Sender Chansons wieder eine Chance. Und das nicht bloß im WDR-5-Quasselformat à la "Thomas Hackenberg trifft Joy Fleming" (warum das nu' wieder "Solo für Zwei" heißen muss? The same procedure as every year?), vielmehr betreut Joana Emetz, die Grande Dame der Liedermacherei, welche der Fleming einst feinste Mundart-Hits auf den Leib schneiderte, im Wechsel mit Antje Kühlmorgen einen eigenen Lied-Programmplatz auf WDR 4 (dem Sender, den ich sonst immer nur beim Friseur höre!). Und wer's nicht glaubt, soll nächsten Donnerstag 21-22 Uhr einschalten. Hätten Sie's gewusst, dass sich damit neben der Breitenwirkung der Lieder auch das Niveau des Senders steigern läßt – Hebelwirkung, Baby! Und das Beste: am 27./28. Oktober bringt Chansons und Lieder-liches eine "lange Nacht", bei der das Schichtdienst-Unterhaltungsgedudel von 22.30 bis 4.00 früh ausnahmsweise durch ein kritisches, nachdenkliches und poetisches Liedprogramm ersetzt wird. Vormerken!

Vom Chanson zum Cartoon: Auch Charles Wolinsky hat seine Memoiren verfasst – mit dem Zeichenstift, versteht sich. Das haben zwar andere schon vor ihm getan, Robert Crumb zum Bleistift (im Rückblick auf ein krampf- und drangvolles Liebesleben), oder Marie Marcks (als Beitrag zur Bewältigung ihrer Nazizeit-Jugend). Der geniale Strichmännchenspötter der französischen Linken glossierte oft harmloser als Reiser, weniger agitatorisch als Siné und nur halb so bitter wie Bosc, hat aber eine Menge zu erzählen (Je montre tout! – ma vie historique, Verlag Charlie Hebdo, 10 FF). Wie der in Tunis gebürtige Wolinsky als glücklos-notgeiler Beaux-Arts-Student in Paris herumläuft, wie er in Mainz bei PARDON seligen Andenkens hospitierte, wie de Gaulles Staatsbegräbnis das Verbot seines Hauptarbeitgeberblatts Hara Kiri herbeiführte (wegen der Schlagzeile: Bal tragique à Colombey – un mort, sinngemäß: tragischer Ball mit Todesfolge in Colombey, der lothringischen Kultstätte des Generals), wie umstritten Wolinskys Arbeit für das Kommunisten-Parteiblatt l'Humanité war (aber für Paris Match hat er auch gezeichnet), und wie die Wende seine (nicht ausführbaren) Rubelmillionen beim UdSSR-Schriftstellerverband vollends entwertete... Die hintergründige Lebensschilderung geht mit gedoppelter Selbstkritik einher: Als junger Mensch begegnet Wolinsky ständig dem alten Zausel, der er in fünfzig Jahren sein wird, und der sich über die eigene Berufs- und Liebesstümperei mokiert – und als zigarrequalmend-übergewichtiger Fünfziger fühlt er sich von seiner moralisierend-rechthaberischen Knabengestalt belästigt, bis er schließlich die eigene Jugend mit bloßen Händen erwürgt.

Just als die Nachricht vom Tod des Zeichners Morris kam, der Lucky Luke, die Daltons und den unverwüstlichen Leichenbitter im Wildwest-Village schuf und nun selbst "I'm a poor lonesome Cowboy" singend in die ewigen Jagdgründe reitet, las ich Wolinsky – und wanderte über das Gräberfeld am Montmartre denselben Tag, da zu Berlin einer der Erneuerer zeitgenössischer Gitarrenmusik, der Uruguayer Abel Carlevaro, verstarb. Pariser Friedhöfe heißen "Musées funeraires nationaux" und werden scharenweise von Touristen und Einheimischen, die gar keine Angehörigen dort liegen haben, besucht. Père Lachaise und Montmartre sind klimatische Oasen im stickigen Stadtlabyrinth – Napoleon wollte einen kapellen- und kirchenfreien Staatsfriedhof, hier weht stets eine angenehm kühlende Brise. Ein untersetzter älterer Herr mit Rauschebart und knallroter Weste führt periodisch Gruppen umher. Der heute 81jährige Vincent de Langlade erklärt gegen bescheidenes Entgelt, wie Grabsteine signiert und datiert werden, wohin Bildhauer von David d'Angers bis Ulrich Rückriem ihre Meisterwerke setzen, welche Geschichten sich hinter schmucklosen und allegorisierend-bebilderten Monumenten verbergen. Er ist zugleich Historiker der Quartiers rund um die Friedhöfe, ausgezeichneter Kenner des "kleinen", liebenswerten und weniger spektakulären Paris und trägt viel aus eigener bewegter Erinnerung bei, wenn er von berühmten und vergessenen Künstlern der dreißiger bis neunziger Jahre berichtet, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden. Seine Führungen finden oft mehrmals täglich statt und sind im Terminkalender Paris Spectacle angekündigt (hält jeder Kiosk bereit); hier nur zwei Tips: Stationen von Lebenskünstlern im Pariser Stadtbild von Brassens bis Coluche am 2.10. und 12.11. (je 11.00 bzw. 14.30, Metro Plaisance vor dem Park), und über Edith Piaf von den Vierteln ihrer Kindheit bis an ihr Grab am 30.12. (15.00 Place Gambetta vor dem Bürgermeisteramt). Pfennigfuchser aufgepaßt: wer meint, sich die Gebühr sparen und stickum der Gruppe anschließen zu können, wird vom Vortragenden in aller Freundlichkeit ("lassen Sie doch den Herrn bzw. die Dame dort vorbei, die nicht zu uns gehören") weggeschüchert!

Ohne Lagardes Hilfe haben wir auf dem Montmartre – den Deutschlehrer/-innen eigentlich nur Heinrich Heines wegen kennen (anstatt wenigstens auch mal den anderen rheinisch-jüdischen Wahlfranzosen Jacques Offenbach zu würdigen) – , das Grab des Fernando Sor gefunden. Statt einer Marmortafel lümmelt ein steinerner Jüngling im Gras, der auf dem Schoß – Sors Haltungsvorschrift ganz und gar zuwider – das geliebtes Saiteninstrument umarmt. Das anmutige Denkmal wurde zum 100. Todestag von der Vereinigung "Les amis de la guitarre" gestiftet und findet den meisten Anklang bei Vögeln und Katzen, die sich zum Dösen oder Wasserpicken auf Schulter und Gitarrenbauch niederlassen. Der hier liegt, war von seinen Eltern für die Militär- oder Beamtenlaufbahn vorgesehen (und hat beide beschritten), doch allen Widrigkeiten zum Trotz wurde ihm auf der Klosterschule die ersehnte musikalische Ausbildung zuteil. Zum Urvater der modernen Gitarristik wurde er dagegen mehr oder minder wider Willen: als Kollaborateur der napoleonischen Besatzung in Spanien musste er den Posten eines Polizeidirektors verlassen und über mehrere Stationen des Exils nach Paris flüchten, wo er von selbstverlegten Gitarrekompositionen, -auftritten und -lektionen lebte. Sein Biograph Wolf Moser hat ihm 1989 in einem legendären musikblatt-Sonderheft zu Fernando Sor ein einfühlsames Porträt gewidmet. Der Friedhof schließt übrigens Punkt sechs Uhr, danach werden Schlenderer von trillerpfeifenden, unerbittlichen Wärtern auf Elektromobilen vertrieben!

Interessant ist der Vergleich der Nekropolen Père Lachaise und Montmartre – dort ist der biedere Parteidemokrat Börne, hier sein überlegener Widersacher Heine bestattet; hier hat Frédéric Lemaitre, der Charakterdarsteller des 19. Jahrhunderts, seine illustre Gruft, dort liegt sein alter ego aus dem Film Kinder des Olymp, Pierre Brasseur, seit knapp dreißig Jahren unter einer nackten, nur den Namen tragenden billigen Steinplatte. Was am meisten frappiert, ist die nicht auszurottende Neigung von Besuchern, sich selbst am Grab ihrer Idole zu verewigen. Ich begreife das nicht! Wieso hinterlässt ein offenbar adliger "Poet und Violinist" vor dem Relief Stendhals gleich zwei kursivbedruckte Visitenkarten? Will er einen Fanclub gründen? Weshalb finden sich unter der Stele des Hieroglyphen-Entzifferers Champollion auf dem Père Lachaise anonyme Briefe eines ungenannten britischen Ägyptologen ("your admirer")? Was treibt einen "Cineasten" italienischen Namens dazu, den Stein von Georges Méliès mit Filzstiftkrakeln zu besudeln? Die Namen der Täter sind notiert, ich lasse sie hier aber absichtlich weg, um sie der Nachwelt zu überliefern – auch nicht unter "ferner liefen", ätsch! Méliès war der Prophet der Filmkunst gewesen, deren technische Pioniere, die Brüder Lumière, allen Ruhm einsackten; Friedhofsführer Vincent de Langlade hat ihn noch als verarmten Hampelmann-Händler auf der Kirmes erlebt.

Vom armen Jim Morrison will ich gar nicht anfangen, was da alles, when the music's over, auf dem Père-Lachaise-Ruhesitz liegenbleibt – wie eine leere Bühne nach dem Rockkonzert sieht es aus! Angeblich sollen in Prag die Kafka-Philologen ihre gedruckten Bücher auf dem Dichtergrab hinterlassen. Hier wäre der nörgelnde pädagogische Stoßseufzer wirklich angebracht: "Wenn das nun jeder täte!" Die getürmten zig-tausend jährlichen Dissertationen zu Kafka würden umgehend die Grabplatte zum Einsturz bringen. Da hat es Ottilie Assing besser. Sie kam, gebürtige Hamburgerin, 1884 nach Paris, nachdem sie jahrzehntelang in den USA gelebt hatte, als Sekretärin und Geliebte des ersten schwarzen Bürgerrechtlers Frederick Douglass: Der hatte, als seine Frau starb, nicht sie, sondern eine Jüngere geheiratet. Ottilies Schwester Ludmilla Assing war längst tot, der Nachlaßss ihrer Tante Rahel Varnhagen nach Berlin gestiftet – die Doppelbiographie Ottilie/Frederick von Maria Diedrich erschien voriges Jahr unter dem Titel Love Across the Color Line im Verlag Wang & Hill, New York. Als Korrespondentin für deutsche Kunstzeitschriften und Sozialistenblätter lebte Ottilie eine Zeitlang in Florenz. Nach Paris kam sie, um – unheilbar erkrankt – Hand an sich zu legen. Im Archiv der Polizeipräfektur, im sehenswerten Polizeimuseum, wird das Register der Morgue aufbewahrt (Mordopfer wurden damals schon fotografiert und ihre Fotos eingeklebt, unbekannte Wasserleichen aus der Seine starren blicklos in die Zukunft). Man fand Ottilie Assing am 21. August um 9.00 früh vergiftet im Bois de Boulogne, Ursache Selbstmord, mit 1 Franc 70 Centimes und dem Hotelschlüssel im Handtäschchen. Bestattet wurde sie, weil's billiger war, draußen in Ivry, laut Registereintrag von 1884 in einer temporären Grabstelle. Ihre letzte Ruhestätte gibt's also nicht mehr, dafür die vorletzte, das Hotel d'Espagne in der Rue des Bergers 9-11, mit drei Sternen, ruhige Lage, sehr zu empfehlen. Warum nicht hier seine Visitenkarte oder ein Gedenk-Graffiti hinterlassen? Natürlich kennt auch keiner mehr die Stelle, wo Ottilie das Gift nahm, aber wenn der August damals ebenso sonnig war, unter grünen Bäumen am Flußufer, wo die Schwäne ziehen... Gemalt hat den Bois de Boulogne genau in jener Zeit Berthe Morisot, die sehr zu Unrecht und zur Schande der Kunstgeschichte lange Zeit nur als "Edouard Manets Modell" bekannte Impressionistin, an deren Bildern mit ihrer unnachahmlichen Leichtigkeit und Strahlkraft im nahegelegenen Musée Marmottan Monet, 2 rue Louis Bolly, niemand achtlos vorbeigehen sollte.

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


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