Luigi Lauer über den Erfinder des Tango Nuevo
Nur wenige Namenspaare sind so unzertrennlich miteinander verwoben wie Tango und Piazzolla. Seine Kompositionen für Kammerorchester und den asthmatischen Wurm, wie man das Bandoneon scherzhaft nannte, sind auf ungezählten Tonträgern verewigt und von Heerscharen völlig unterschiedlicher Musiker und Bands interpretiert worden. Piazzolla hat den vertikalen Ausdruck einer horizontalen Begierde salonfähig gemacht, und es ist Zufall,
dass es dazu kam. Geboren 1921 im argentinischen Mar del Plata, wächst Piazzolla in New York auf, wo er mit 13 den legendären Tangosänger Carlos Gardel trifft. In dessen nächstem Film ist er bereits der Bandoneonist. Mit 16 kehrt er zurück nach Mar del Plata und geht zwei Jahre nach Buenos Aires, als die Stadt den Namen Gute Luft noch verdient. Er tingelt durch die Clubs, beginnt zu komponieren, arrangiert für zahlreiche Tangoorchester. Doch seine Ideen werden anspruchsvoller, und immer mehr Bands ist das zu kompliziert, was er schreibt. Piazzolla ist enttäuscht, er will dem Tango den Rücken kehren und liebäugelt mit klassischer Musik. Arthur Rubinstein lebt zu der Zeit in Buenos Aires, Piazzolla besucht ihn mit einer Eigenkomposition, für Orchester, aber da Piazzolla nicht weiß, wie man die ganzen Instrumente notiert, packt er sie alle in einen Klavierauszug. Es klingt grauenvoll. Aber Rubinstein vermittelt ihm einen Lehrer, sechs Jahre Studium bei Alberto Ginastera folgen, ein argentinischer Komponist und Freund Rubinsteins.
Piazzolla studiert und komponiert, was das Zeug hält. 1953 gewinnt er einen Kompositionswettbewerb und, damit verbunden, ein Stipendium Frankreichs für ein Studium in Paris. Piazzolla landet bei Nadia Boulanger, und da passiert das Entscheidende. Er legt ihr Eigenkompositionen kiloweise vor, sie studiert sie kurz und sagt: Sehr gut geschrieben. Hier bist du ein bisschen Stravinsky, hier ein wenig Bartok, hier ein Stück Ravel. Nur Piazzolla finde ich nicht. Sie beginnt, ihn auszuquetschen, sie war wie ein FBI-Agent!, erinnert er sich später. Er versucht, sich herauszulügen, sich schämend, Bandoneon in Nachtclubs gespielt zu haben, und dann auch noch Tangos. Er fürchtet, die Boulanger könne ihn aus dem 4. Stock werfen, denn in Argentinien ist Tango-Musiker ein Schimpfwort; Schmutz, Prostitution, Kriminalität und Unterwelt sind die damit verbundenen Assoziationen. Doch die Lehrerin bleibt hartnäckig, alles kommt ans Licht. Am liebsten hätte er ihr ein Radio auf den Schädel gehauen. Schließlich fordert sie ihn auf, eine Tango-Komposition von sich auf dem Klavier zu spielen. Er macht´s, sie reißt die Augen auf und sagt: Das ist Piazzolla, du Idiot! Piazzolla begreift und schmeißt die Arbeit von zehn Jahren in den Müll. Ich fühlte mich wie ein Haufen Scheiße!, sagt Piazzolla, der außer dem Tango auch ein paar Vokabeln aus dem Nachtclub-Milieu mitbekommen hat. Aber Madame Boulanger ermutigt ihn, zu seiner Musik zu stehen, sie lehrt ihn den Kontrapunkt, damit er Streichquartette sauber setzen kann. Das war 1954.
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Mehr über Astor Piazzolla im Folker! 3/2001