backDie deutsche Szene im Überblick

„2001 – A Folk Odyssey“

Ein „Insider“ über den neuen PROFOLK-Sampler

Da saßen wir nun, es war Mitte Juni und wir waren in der Mitte von Berlin, mitten drin zwischen Rotem Rathaus und Alex, mitten in der Wohnung von Liane und Florian Fürst. Wir, das waren Heidi Zink, Fraunhofer Saitenmusik-Hackbrettspielerin und Chefin von PROFOLK (dem Dachverband für Folk, World und Lied), Holger Janssen, norddeutsches Radio-Urgestein und für jede Situation den passenden Spruch und die passende Story auf den Lippen (ich sag nur: „Unser Herr Blöhdorn“) und meine Wenigkeit. Da saßen wir nun und uns war gar nicht feierlich. Hätte es aber eigentlich sein müssen, denn wir waren gerade dabei, den fünften PROFOLK-Sampler zusammenzustellen. Vielleicht lag es auch daran, dass wir uns normalerweise nicht in Skat-Stärke treffen, sondern eher als dynamisches Quartett. Manne Wagenbreth, ein Folkländer Bierfiedler und/oder Mitglied der Leipziger Folksession Band und MDR-Radioredakteur, war wegen letzterer Kapazität verhindert. Wenn ich sage, dass uns Manne fehlte, dann ist das eher menschlich gemeint. Fachlich würde Manne uns nie im Stich lassen und so hatte er vorgearbeitet bzw. vorgehört und die wieder sehr zahlreichen Einsendungen in unsere traditionellen drei Kategorien eingeteilt: „Muss“, „Kann“ und „Niemals“. Man sollte nichts beschönigen, letztere Kategorie gibt es tatsächlich, wenn sie auch dankenswerterweise ziemlich schmal ist. „Helden der Fußgängerzone“ nannte Kollege Janssen diese Künstler mal während eines denkwürdigen Treffens und wir spielen permanent mit dem Gedanken, auch diese Musik auf eine (separate) CD zu brennen, denn manche Vertreter dieser Kategorie sind so gnadenlos schlecht, dass sie schon deshalb möglicherweise wiederum ein Hit wären.

Von Mike Kamp

Die Zusammenstellung der PROFOLK-CD ist immer ein kleines Mysterium, denn es steckt kein ausgeklügelter Plan dahinter, wenn man mal davon absieht, dass Heidi Zink im Vorfeld natürlich etliches an organisatorischer Vorarbeit leistet, die man nicht sieht, aber ohne die es nie eine CD gäbe. Wir sitzen über mehrere Stunden in einem Raum und hören uns konzentriert durch 30-50 Tonträger. Nein, nicht komplett, die Künstler geben meist genau vor, an welchem Titel wir interessiert zu sein haben und in der Regel halten wir uns auch an diese Vorgabe. Es entstehen die obigen drei Kategorien, wobei es bislang erstaunlicherweise keine harten Kämpfe bis aufs musikalische Messer gegeben hat. Meist sind wir einer Meinung, obwohl wir doch nicht nur geographisch aus unterschiedlichen Ecken der Szene kommen. Die regelmäßigen WackelkandidatInnen werden sachlich diskutiert („Nur über meine Leiche!“ – „Kann ich mit leben.“ – „Nicht schon wieder der!“) und die Entscheidungen, zu denen wir schließlich kommen, haben unterschiedliche Hintergründe. Bei ein, zwei Handvoll KandidatInnen2001 – A Folk Odyssey (plus dem Förderpreisträger, der ist gesetzt, dieses Jahr Schandmaul) ist man sich schnell einig, aber dann wird es kompliziert. Wie viele Instrumental-Titel haben wir bislang? Haben wir einen fetzigen Opener (auf dieser CD mit Sicherheit)? Und ein entsprechendes Endstück? Sind sechs Bluestitel nicht ein bisschen viel? Hey, wir haben noch kein Gitarrenstück! Welche von diesen drei Klezmer-Bands sollen wir denn nehmen? Meine Güte, ist aber dieses Jahr Balkanfolklore angesagt! Der bewirbt sich jetzt schon zum dritten Mal, so schlecht ist der doch gar nicht, der ist beim letzten Mal nur nicht reingekommen, weil wir schon so vielen ostwestfälische Maultrommelspieler hatten! Und dann ist ja auch die Reihenfolge der Titel auf der CD wichtig, drei Hobby-Kelten hintereinander ist vielleicht nicht so sinnvoll. Wie also halten wir einen musikalischen Spannungsbogen über die gesamte CD aufrecht? Aber irgendwie steht am Ende des Tages der neue Tonträger und wir befinden mit berechtigtem Stolz: „Mensch, das ist ja wieder richtig gut geraten!“

Und nicht nur wir! Der PROFOLK-Sampler bekommt Lob aus höchstem Musiker-und Medienmund. Der Welt wichtigstes englischsprachiges Fachorgan, fROOTS (vormals FolkRoots), war so begeistert, dass sie die CD im Heft verloste und der Welt wichtigstes deutschsprachiges Fachorgan, der Folker!, war so begeistert, dass er die CD in dieses Heft klebt. Dabei ist die Idee, den Lesern einen Überblick über die heimischen Künstler zu geben, nicht die ursprüngliche. Mit dem Aufkommen des Mediums CD wurde das Konzept einer musikalischen Visitenkarte der deutschen Szene für das Ausland diskutiert, bis Mitte der 90er Jahre Bernhard Hanneken im Auftrag von PROFOLK ernst machte und die erste CD („It's only Kraut ... but I like it“) initiierte. Mir ist mit Ausnahme der dänischen KollegInnen kein Land bekannt, wo die Darstellung der Szene im Ausland so heftig und regelmäßig betrieben wird. Vielleicht kann man sagen, dass beispielsweise die schottische Szene gesund und erfolgreich genug ist, um auf so eine CD verzichten zu können, ich kenne allerdings genügend schottische Künstler und Medienleute, die die PROFOLK-CD extrem neidisch zur Kenntnis nehmen und das jedes Jahr. Die Jury jedenfalls ist vom Sinn und Zweck ihrer Arbeit felsenfest überzeugt. Persönlich (und das geht den KollegInnen wahrscheinlich ähnlich) entdecke ich trotz jahrzehntelanger Arbeit auf der Szene immer wieder neue und mitreißende Musikerinnen und Musiker. Mich begeistert überdies die Bandbreite der Musik, die in Deutschland gemacht wird. Okay, es könnte durchaus mehr Gruppen wie die Leipziger Folksession Band geben, die gnadenlos gut und (jenseits jeglicher Leitkulturdummschwätzerei) gnadenlos deutsch sind (und bei deren Wertung sich Manne als Jury- und Bandmitglied ganz gentleman-like enthalten hat), aber ich möchte das breite Spektrum dieser CD namens „2001 – A Folk Odyssey“ (basierend auf einem genialen Gedanken von J.B. Lang) und ihrer vier Vorgängerinnen nicht missen. Und besonders schön ist, dass Sie in diesem Jahr erstmals nicht in der blöden Situation sind, mir glauben zu müssen oder auch nicht. Die CD einfach und vorsichtig ablösen, einlegen und abheben!

Die Reise geht offiziell zwar nur von der Nord- und Ostsee bis zum Alpenrand, aber musikalisch ist es eine Reise um den Globus. Wie eine klingende Referenz dessen, für was der Folker! steht. Und PROFOLK. Hier sind die „Folk Odyssey“-KünstlerInnen im Einzelnen:

1) Leipziger Folksession Band
Mitglieder der legendären DDR-Folkväter Folkländer tun sich locker mit der jungen Generation zusammen und das Resultat ist ein extrem fetziges.

2) Di Grine Kuzine
Klezmer aus Berlin; auch die Mitglieder dieser Band haben sich ihre Meriten bereits anderswo verdient (z.B. bei JAMS, Michele Baresi oder Transsylvanians).

3) Lynch The Box
Irish Folk jenseits ausgetrampelter Irish-Pub-Pfade mit dem Duo Mayr (ex-Hölderlin Express) und Rülke mit den ziemlich permanenten Gästen Walther und Lang.

4) Meier*
Helmut mit Vornamen und das * steht auch nicht im Pass. Liedermacher aus Duisburg zwischen Lust und Laune, Laut und Leise, Heiter und Politisch.

5) Mrs. Meyer's Love Affairs
Quartett um Herrn und Frau Meyer aus Berlin, die in dieser Formation noch keinen Tonträger haben, uns aber aus JAMS-Tagen ausgesprochen bekannt sind.

6) Ensemble Fizfüz
Noch'n Quartett, diesmal aus dem Süden der Republik und diesmal mit Elementen aus der Türkei, Griechenland, Arabien und einem Schuss Klezmer.

7) Roger Matura
Der „Ruhrpott-Dylan“ bringt seine meist englischen und manchmal deutschen Lieder so glaubwürdig rüber, dass er wohl nie der große Star werden wird (s. auch Folker! 5/2000).

8) Schandmaul
Zwei Damen und vier Herren aus Bayern, die mit ihrer Mischung aus Folk und mittelalterlicher Musik den 2000er FolkFörderPreis gewannen (und von denen ohne eigenes Verschulden ein anderer Titel auf dem Sampler landete als angegeben, „Der Talismann“ heißt das Stück tatsächlich. Sorry!).

9) Regina Lindinger
Die Münchenerin braucht häufig keine Texte, um ihr Instrument zur Geltung zu bringen: die magische Stimme. Auf heimischem, bayrischen Hintergrund unternimmt sie musikalische Reisen in alle Welt.

10) Talking Horns
Vier Blechbläser aus Köln, die mit dem Vorurteil aufräumen, dass sich mit ihrem Instrumentarium hauptsächlich tümeln lässt. Man nehmen nur eine gehörige Portion Soul, Funk, Jazz und Kammermusik.

11) Reel Feelings
Keltischer Folkrock zwischen Steeleye Span und Capercaillie. Das Quintett um Folker!-Frau Kerstin Braun profitiert dabei von der unterschiedlichen musikalischen Geschichte der einzelnen Mitglieder.

12) Karibuni
DAS deutsche multi-kulti Kinder-Erwachsenenprojekt um ex-Cochise, ex-Baba Jam Band und ex-Radio Ethiopia-Mitglied Pit Budde (s.a. Bericht in diesem Heft).

13) Helmut Eisel & Jem
Klezmermusik aus Osteuropa um den Klarinettisten Helmut Eisel, der den großen Giora Feidman in seinen Meisterklassen seit 1990 unterstützt. Wird seinerseits unterstützt von Bass und Gitarre.

14) Willie Salomon & Peter Krause
Gitarre. Mundharmonika und Gesang in ihrer bluesigsten Form (plus Ragtime, Swing und Gospel). Ersterer perfektionierte sein Gitarrenspiel mit vielen Größen und Legenden, letzterer hat noch die Gruppe Cyress Grove (s.a. „Kurzschluss“ in diesem Heft).

15) Wünnespiel
Der Name lässt's erahnen, hier geht's ums Mittelalter, Musik zwischen 13. und 17. Jahrhundert (z.B. auf Nyckelharpa, Drehleier, Dudelsack oder Cister).

16) Hora Colora
Trio um Anti von Klewitz, die Geigerin aus Kroatien. „Balkan meets Jazz“ nennen sie das und erhalten Lob von Sing Out! bis zur Rheinischen Post. Beim 1996er Wettbewerb um den FolkFörderPreis machten sie den 2. Platz.

17) Kick La Luna
Vier Damen aus Frankfurt mit Vorliebe für lateinamerikanische und afrikanische Rhythmen präsentieren seit 1992 der Welt ihre Art von Ethno-Funk.

18) For Free Hands
Ursprünglich waren es "4" (vier), nun sind es sechs Hände, die da mit Gitarre, Chapmanstick und Drums ihre Version und Vision von europäischer Weltmusik schaffen. Diese Zeitschrift fand das ganz toll (Folker! 4/99)


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