backHildegard Doebner fehlt uns

Vor einem Jahr starb Deutschlands „Folk-Mutter“ in Witten

Erinnerungen eines Freundes

1973 ist Hildegard in mein Leben, in mein Herz und in meine Seele gekommen, wie eine wunderschöne Überraschung, die einem den Atem nimmt und wie eine frische Brise einige Spinnweben wegfegt. Nach einem Auftritt im Bochumer „Spectrum“ brachte mich Michael Lohrengel (heute bei „Fair Play“ in Berlin) nach Witten, wo er mir „eine Bleibe“ versprochen hatte. Wir kamen dann gegen 1.30 Uhr in der Steinstraße 15 an, und dort in der Küche (fast ein heiliger Ort, wo ich noch unendlich viele schöne Stunden erleben sollte) wurde mir Hildegard Doebner vorgestellt: eine kleine, mollige, dunkelhaarige Frau Mitte 40, die Lebensfreude versprühte und mich sehr freundlich begrüßte und von diesem Moment an in ihr Leben aufnahm.

Von Ray Austin

Hildegard DoebnerWir saßen dann am Küchentisch, wo Hildegard eine Patience gelegt hatte, und sie fragte, ob ich etwas trinken möchte. Ich meinte, dass ein Bierchen mir bestimmt gut tun würde, worauf sie feststellte, dass kein Bier im Hause sei. „Komm, wir gehen was holen!“, meinte Hildegard, und so sprangen wir beide in mein Auto und fuhren los. Auf dem Rückweg wurden wir von einer Polizeikontrolle angehalten, und ich durfte blasen. Der Polizist meinte, dass es an der Grenze sei, und ich sollte mitkommen und eine Blutprobe abgeben. Hildegard wartete über 40 Minuten im Auto und versuchte in meinem englischen Science-Fiction-Roman zu lesen ... sie kam nicht sehr weit. Nach Abnahme meines englischen Führerscheins dauerte es über eine Woche, bis ich Bescheid bekam, dass ich doch wieder fahren durfte, und in dieser Zeit lernte ich Hildegard noch besser kennen.

mit Lydie Auvray, Heidelberg 1992
mit Anke Engelke und Wolfgang Niedecken, Waldeck 1995
mit Ray Austin, Ingelheim 1996

Hildegard war Witwe; ihr Mann Rolf kam in den 60ern bei einem Bergwerksunglück ums Leben, und Hildegard und ihre zwei kleinen Kinder Anke und Rolf lebten von der Rente in einem älteren, gemieteten Haus, wo es auch Platz für zwei Untermieter sowie jede Menge tourender Musiker gab. Im Dachgeschoss gab es zwei Zimmer für Rolf und Anke, ein Kabuff (mit Gästebett) und einen Schlafsaal mit acht Matratzen auf dem Boden, die bei Besuch immer frisch bezogen wurden. Einige Monate später gründete Hildegard den Folk Club Witten, nach dem Muster unseres Clubs in Freiburg. Den Folk & Blues Club Freiburg hatten wir 1970 gegründet, und über die Jahre gab es mit Witten einen regelmäßigen Austausch von Musikern und Folkfreunden. Es war für mich und viele Andere sehr traurig, dass Hildegard bei unserem Jubiläum im vergangenen Oktober nicht dabei war ... sie hätte ihre große Freude daran gehabt.

Von 1973 bis 1978 war ich regelmäßig in der Steinstraße 15 zu Gast, denn damals war ich fast nur auf Tournee, was ich in erster Linie dem hervorragenden Musikmanagement von Hansi Dobratz in Braunschweig zu verdanken hatte. Die Tourneen waren überwiegend in der nördlichen Hälfte des Landes, und wenn ich nicht weiter als 150 Kilometer von Witten entfernt war, ging ich (wie auch viele meiner Kollegen) nach Witten, was wie ein zweites Zuhause geworden war. Dort konnten wir von der fahrenden Folkzunft unsere freien Tage (und Nächte) verbringen und richtig entspannen, sowohl mit Hildegard und ihrer Familie als auch mit ihren tollen Wittener Freunden. Meistens waren auch andere Musiker da, wie die Wild Geese und die Fureys aus Irland, Brenda Wootton, Julian Dawson und Mike Silver aus England, Le Clou, Lydie Auvray und Goun aus Frankreich oder Gäste aus ferneren Ländern wie Australien, Kanada oder den USA. Natürlich war die deutschsprachige Szene auch stark vertreten: Fiedel Michel, Schwan, Bernies Autobahn Band, Stoppok, Lilienthal, Liederjan oder Hans Keller. Es war wie eine riesige Familie, und es tut mir leid, wenn ich einige wichtige Namen zu erwähnen versäumt habe, aber die Liste ist so lang.

Wir spielten Musik und Karten miteinander (hier war Hildegard meistens die Gewinnerin, ob bei Doppelkopf, Ärger-Patience oder was auch immer), dann gingen wir oft gemeinsam Essen zu „Salvatore“, wo wir immer mit freien Schnäpschen und Vor- oder Nachspeisen sehr verwöhnt wurden, weil Salvatore Hildegard so sehr liebte. Und wir diskutierten über die Welt, die Umwelt, die Nach- und Nachtwelt sowie über die traurige Geschichte mit der Politik und den Politikern. Hildegard war keine Politikerin im herkömmlichen Sinne, obwohl sie immer politisch aktiv war, zunächst in der SPD und später als Stadträtin bei den Grünen. Sie hatte ein sehr praktisches Verständnis von Politik, was sie mit Musikveranstaltungen umzusetzen versuchte. Der Einsatz für die Menschenwürde stand bei ihr im Mittelpunkt. Sie stand auf gegen jede Art von Hass und Gewalt. Das war der Mittelpunkt in Hildegards Leben und Seele, und eigentlich war für sie die Musik ein sehr willkommenes, sympathisches Werkzeug, um ihr Verständnis vom Leben zu vermitteln und zu untermalen. Sie liebte uns Musiker und Kleinkünstler, weil wir, wie sie, uns intensiv und fast ununterbrochen mit menschlichen Gefühlen, Problemen und Schicksalen beschäftigten, und natürlich liebte sie alle anderen, die sich ähnlich aber anders engagierten, genauso.


Ray Austin ist Liedermacher und Folkmusiker. Geboren 1943 im englischen Thorne in der Grafschaft Yorkshire, kam er als Sechsjähriger 1949 nach Halifax. 1970 erkor Austin Freiburg zu seiner Wahlheimat.


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