backFolker!-Gespräch

"Panel vergrößern – Horizont erweitern"

Ian Anderson und Petr Pandula über die World Music Charts Europe

Es ist schon fast zwei Jahre her, dass ein offener Brief zum Thema "World Music Charts Europe" für viel Aufregung sorgte. Gerichtet war er an Johannes Theurer, den Musikchef von SFB4 MultiKulti, und zwar stellvertretend für die Mitglieder des WMCE-Panels, dem rund 40 DJs und Moderatoren von Mitglieds- bzw. assoziierten Rundfunkstationen der European Broadcasting Union (EBU; ein Zusammenschluss der nicht-kommerziellen, öffentlich-rechtlichen Radios in Europa) angehören. Theurer stellt, gemeinsam mit Kollegen, monatlich und ehrenamtlich die Ergebnisse dieser Weltmusik-Hitparade zusammen. Absender des Briefs war Petr Pandula, Besitzer der auf keltische Musik spezialisierten Plattenfirma Magnetic Music und Chef des St. Patrick's Days Celebration Festival (mittlerweile hat er auch die Organisation des Irish Folk Festival von Carsten Linde übernommen). Pandulas Klage: Die WMEC befänden sich in einer "stilistischen Schieflage". Sie bestünden zu 95 Prozent aus Musik aus drei Erdteilen, Südamerika, Afrika und Asien. Die Art von Worldmusic, wie sie von Magnetic Music und anderen Labels vertreten wird, werde in den Charts "diskriminiert oder unterdrückt". Pandulas Anliegen: eine Diskussion unter den Juroren anzuregen. Pandulas offener Brief wurde im monatlichen Bulletin der WMCE nicht veröffentlicht. Allerdings setzte eine heftige Diskussion hinter den Kulissen ein. Zwar wies Johannes Theurer dabei die Kritik von Petr Pandula als "Unsinn" zurück (s. auch Johannes Theurers Leserbrief in Folker! 6/99), doch weder er noch zwei andere angefragte deutsche Mitglieder des Charts-Panels waren bereit, sich an einem Folker!-Gespräch zu diesem Thema zu beteiligen. Daraufhin führten Petr Pandula (s. auch das Interview in Folker! 2/99) und das ehemalige Panel-Mitglied Ian Anderson (s. auch das Porträt über den fROOTS-Herausgeber in Folker! 2/00) das Gespräch.

Ian Anderson: Es läßt sich schwerlich darüber streiten, was die einzelnen Leute in ihren Sendungen spielen. Und die Charts sollen ja gerade das widerspiegeln, was im Radio gespielt wird. Das Problem sind also nicht die Charts selber, wenn es um keltische Musik geht. Das Problem liegt darin, was die Moderatoren als Teil des Genres "Weltmusik" ansehen. Es geht im Grunde genommen um die Frage, wie man sich selber versteht. Ob man als DJ nur die Platten spielt, die man selber mag, die von der Hörerschaft vielleicht auch gewünscht werden – was völlig in Ordnung ist. Oder ob man sich so versteht, als Angebot das vorzustellen, was auf dem Markt ist. Als ich für den BBC Worldservice gearbeitet habe, habe ich oft genug Platten gespielt, die ich nicht mochte. Der Programmauftrag lautete aber, vorzustellen, was neu war. Jeder weiß, dass ich nicht gerade ein Fan von Fairport Convention oder amerikanischen Singer/Songwritern bin. Aber wenn in diesem Bereich etwas Wichtiges erscheint, dann habe ich es vorgestellt. Die Leute können dann selbst entscheiden.

Petr Pandula: Das macht für mich viel Sinn, zumal du einen viel direkteren Einblick in die Sache hast. Ich beobachte die Charts seit einigen Jahren. Und wenn man die Ergebnisse auswertet, ist es einfach ein Faktum, dass nicht nur keltische Musik, sondern auch europäische Musik im Allgemeinen unterrepräsentiert ist und meistens Musik aus Kuba, Afrika, Südamerika und Asien vertreten ist. Ich habe mich gefragt, warum das so ist und daher den offenen Brief an Johannes Theurer geschrieben und um eine Erklärung gebeten. Ich denke, dass die Moderatoren der von dir beschriebenen Aufgabe, ein Angebot zu machen, wirklich nicht nachkommen. Als die Charts entstanden sind, habe ich mich sehr gefreut. Damals gab es ja kaum Möglichkeiten, Weltmusik vorzustellen, und dazu zähle ich regionale europäische Stile und natürlich die keltische Musik. Ich hatte große Hoffnung, dass mit den Charts ein größeres Interesse an dieser Musik geweckt werden kann. Am Anfang war das damit verbunden, dass man mit einer Airplay-Hitparade gerade den Musikern eine Chance geben kann, die weniger kommerziell sind und daher über die Verkaufszahlen nicht zum Erfolg kommen können. Ich dachte also, dass die Charts gerade kleinen Labels helfen können. Doch heute habe ich, wie gesagt, den Eindruck, dass es eine inhaltliche Schieflage im Panel gibt. Und wenn neue Mitglieder ins Panel aufgenommen werden, dann sind es meistens solche, die die Charts allein als Spielwiese ihres persönlichen Geschmacks betrachten. So stellt sich mir die Situation dar.

Michael Kleff: Vielleicht sollte ich, um Missverständnissen vorzubeugen, als Mitglied des WMCE-Panels klarstellen, dass es keinerlei Regeln gibt, die in irgendeiner Form eine Musikrichtung bevorzugen bzw. benachteiligen. Das angesprochene Problem liegt meiner Ansicht nach eher in der jeweiligen subjektiven Sichtweise der Panel-Mitglieder. Was wiederum auch damit zu tun hat, dass es kein einheitliches Selbstverständnis der Kolleginnen und Kollegen gibt. Einige verstehen sich als DJs, die neue Scheiben auflegen, andere haben einen eher journalistischen Ansatz.

Ian Anderson: Das ist eine Frage, mit der wir uns im Zusammenhang mit Preisverleihungen jüngst auch in fROOTS beschäftigt haben. Preise haben für mich nur einen Wert, wenn klar ist, wie eine Platte bzw. ein Künstler nominiert wird, wer die Mitglieder der Jury sind und auf welcher Grundlage sie entscheiden. Wenn man zum Beispiel die Verleihung der Country Music Awards im Fernsehen verfolgt, dann hat man keine Ahnung, warum jemand überhaupt nominiert wurde und wer da abgestimmt hat. Für die Öffentlichkeit sieht es aber so aus, als ob das eine objektive Entscheidung ist.

Statistisch betrachtet

Die World Music Charts Europe in der Jahresauswertung 1999

Von den insgesamt 880 CDs kamen 184 aus Afrika, 94 aus Kuba und der Karibik sowie 75 aus Süd- und Mittelamerika. Das sind rund 40 Prozent aller Nennungen. Ein Blick auf die Top 50 sieht schon anders aus. Da kommen allein 50 Prozent der gewerteten CDs aus Afrika sowie weitere 16 Prozent aus Kuba, der Karibik sowie Süd- und Mittelamerika. Die restlichen Alben kommen aus Europa (10) sowie aus den USA (3). Bei vier CDs handelt es sich um Zusammenstellungen mit Musik aus den unterschiedlichsten Ländern. Bei den Top Ten-Alben 1999 kamen 60 Prozent aus Afrika (jeweils eine CD kam aus Kuba, aus Martinique, aus Großbritannien sowie aus Deutschland). Von den "klassischen" keltischen Ländern ist Schottland unter den 880 Nennungen auf den Plätzen 831, 784, 670, 578 und 549 vertreten. Irland findet sich auf den Plätzen 725, 514 (Kanada/Irland), 428, 371 (USA/Irland), 226 (Japan/Irland) und 187.

Mir ist es ziemlich egal, wie die Charts zusammengestellt werden, aber es muss völlig klar sein, warum jemand platziert wird. Ich kenne übrigens Leute, die Mitglied in diesem Panel sein sollten oder waren, die einfach Probleme mit Formularen haben. Es gibt da ja die Regel – und die ist völlig ok – dass man ausgeschlossen wird, wenn man in drei aufeinanderfolgenden Monaten kein Votum abgegeben hat. Ich sollte den Namen gar nicht nennen, aber ich denke da beispielsweise an Andy Kershaw, der wäre in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall. Er ist aber ein gutes Beispiel für Kollegen, die alles Mögliche auflegen, deren Spektrum aber in den World Music Charts Europe nicht vertreten ist.

Ich will noch einen anderen Gesichtspunkt ansprechen. Die Panel-Mitglieder spielen in der Regel nur das, was sie auch bekommen. Nun magst du ja deine keltischen CDs an alle schicken. Aber kein anderer macht das. Kann es daher vielleicht sein, dass beispielsweise einige irische Labels ihre Produktionen auch nicht als Weltmusik bezeichnen?

Petr Pandula: Dazu kann ich zwei Sachen sagen. Ich verstehe mich mit meinem Label und meinen Künstlern als Teil der Weltmusikszene. Ich habe in den letzten fünf Jahren meine CDs dem Panel zugeschickt, ohne dass sie dort wahrgenommen wurden. Ich überlege mir daher, ob angesichts dieses Ergebnisses die hohen Kosten zu rechtfertigen sind. Und seitdem ich das Büro meines Labels nach Irland verlegt habe, habe ich auch feststellen müssen, dass dort die World Music Charts so gut wie unbekannt sind. Was ein Indiz dafür ist, dass die Panelmitglieder kaum irische Produktionen bekommen.

Ian Anderson: ... weil viele dieser Labels auf die Frage, ob sie Weltmusik veröffentlichen, mit "nein" antworten würden.

Michael Kleff: Ich will mal auf andere Musikstile zu sprechen kommen. Mir ist aufgefallen, dass beispielsweise Cajun oder Zydeco den Weg auf die vorderen Plätze der Charts nicht schaffen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass ein Album eines Erhu-Spielers aus China als Weltmusik betrachtet wird, während das eines virtuosen Fiddlers von Cape Breton keine Chance hat. Bei der berechtigten Ablehnung nordamerikanischer Pop-Produkte, die den Markt in aller Welt überschwemmen, wird so allerdings der Sack geschlagen, obwohl der Esel gemeint ist.

Ian Anderson: Das kann ich mir gut vorstellen. Es ist einfach schwer, vorhandene Strukturen in den Köpfen zu verändern. Im Laufe der Zeit entsprechen die Charts mehr und mehr dem, für das man sie hält. Wenn man sie anschaut, ist es eben vor allem Musik aus Afrika, Lateinamerika und etwas Fusionmusik aus Asien. Nordische Länder schaffen derzeit ab und zu den Sprung in die Charts. Das ist ein Teufelskreis. Weil bestimmte Platten nie in den Charts auftauchen, denken manche Leute auch nicht daran, sie zu spielen und dann für sie zu stimmen. Es hat bei fROOTS 20 Jahre gedauert, bis die Leserschaft die verschiedenen Musikgenres als gleichwertig akzeptiert hat. Man müsste eine richtige Kampagne starten und sich an Plattenfirmen wenden, die bislang das Panel nicht bemustert haben. Aber wie gesagt, die WMCE werden auf ehrenamtlicher Basis organisiert. Und wem kann man diese zusätzliche Arbeit zumuten ...

Petr Pandula: ... vielleicht würden einige DJs auch gar nicht glücklich darüber sein, wenn sie jetzt auch noch einen Haufen irischer CDs auf den Schreibtisch bekommen. Mir ist in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass Baaba Maal auf seinem letzten Album keltische Musikelemente, u.a. mit dem bretonischen Harfenisten Myrdhin benutzt hat. Damit ist er auf Platz 1 gekommen. Myrdhin selbst ist mit seinen eigenen Platten kein einziges Mal gewertet worden. Woran liegt das?

Ian Anderson: Du musst dir mal die Billboard-Worldmusic-Charts in den USA anschauen. Die ist voll mit keltischer Musik. Da wird bisweilen gefordert, Billboard sollte eine eigene Hitparade für keltische Musik einführen, um etwas Raum für afrikanische oder kubanische Musik in den Weltmusik-Charts zu schaffen. So ist das mit der Idee, Weltmusik als "lokale Musik nicht von hier" zu definieren. Jeder geht dabei ganz unterschiedlich vor. Letztendlich können diejenigen, die die Charts verantworten, ihre eigenen Regeln aufstellen. Sie machen ja auch all die Arbeit ...

Petr Pandula: ... Aber das ist doch das Problem. Es sind Meinungsführer. Wenn Monat für Monat nur Musik aus bestimmten Ecken der Welt vorgestellt wird, dann entsteht ein falsches Bild und bestimmte Bereiche beispielsweise europäischer Weltmusiktraditionen werden erst gar nicht wahrgenommen. Zumal die Charts auch für viele Journalisten eine Art Leitfaden für ihr Programm sind. Das Panel sollte dann einfach klarstellen: Wir spielen die Musik unseres persönlichen Geschmacks. Wir nehmen nur bestimmte Bereiche wahr. Dann ist das klar und man weiß, wie man die Charts einzuschätzen hat.


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