Von Ulrich Joosten
Stan Rogers ist eine Legende, eine kanadische Nationalikone. Er spielte für die Folkszene und die Entwicklung eines nationalen Songwriting-Idioms in Kanada eine vergleichbar wichtige Rolle wie Woody Guthrie in Amerika. Rogers hat an die 100 Songs geschrieben, die die kanadische Seele, Lebensart und Geschichte widerspiegeln. Stan Rogers konnte sich wie kein zweiter in den Alltag der kanadischen Hoch- oder Binnenseefischer hineinfühlen oder die Sorgen und Nöte der Farmer der Big Plains des kanadischen Nordwestens oder der Arbeiter in den Goldminen oder Holzfällercamps nachempfinden.
Als Stanley Allison Rogers wird er am 29. November 1949 in Hamilton, Ontario, als Sohn von Valerie und Nathan Allison Al Rogers geboren. Seine Familie stammt von der kanadischen Ostküste, wo viele Verwandte im maritimen Umfeld arbeiten. Stans Vater jedoch ist von Beruf Maurer. Von ihm erben Stan und sein Bruder Garnet die tiefe Baritonstimme. Stan wächst zu einem großen Mann heran, gebaut wie ein Feuerwehr-Truck (...) mit einer Stimme, die auch brüllen und poltern konnte. Trotzdem blieb er im Herzen ein Poet und Intellektueller, der sich oft genug aus Versammlungen mit einem Buch davonstahl (Emily Friedman, Herausgeberin der amerikanischen Folkzeitschrift Come For To Sing in den Liner Notes der Rogers-CD Home in Halifax).
Stan bekommt seine erste Gitarre im Alter von fünf Jahren. Sein Onkel Lee Bushell baut sie aus Birkensperrholz, mit Bundstäben aus Schweißdraht. Sattel und Steg sind aus einer alten Zahnbürste geschnitzt.
Stans jüngerer Bruder und Mitmusiker Garnet erinnert sich an die frühesten musikalischen Einflüsse: Unsere Eltern hörten viel Folkmusik, und wir beide mochten diese Musik, als wir aufwuchsen. Eigentlich merkwürdig, dass wir während unseres Heranwachsens nicht gegen den elterlichen Musikgeschmack rebellierten, sondern uns eher noch mehr damit beschäftigten. Wir hatten immer Folkmusik im Haus. Leadbelly, Cisco Houston, Woody Guthrie. Als Bob Dylan in den frühen 60ern in der Folkszene auftauchte, brachte eine ältere Cousine dauernd irgendwelche Dylan-Platten mit und wir saßen die ganze Nacht mit ihr zusammen, tranken Wein und hörten Dylan. Alle Brüder meiner Mutter spielten Gitarre und sangen dazu. Im Sommer fuhren wir immer zusammen nach Nova Scotia in Urlaub, und es hatte einen recht großen Einfluss auf Stan, meine Onkel Sachen von Hank Williams, Hank Snow und anderen singen zu hören.
Stan verbringt einen Teil seiner frühen Kindheit in Nova Scotia und kehrt später nach Ontario zurück, um zur Schule zu gehen. Seine Lehrer halten ihn für einen brillanten, aber stinkfaulen Schüler: Meine Zensuren waren immer gut, erzählt er den Lesern der Zeitschrift Artsbeat aus seiner Heimatstadt Hamilton, aber meine Lehrer hatten immer das Gefühl, dass ich noch viel besser hätte sein können, wenn ich nur ein bisschen mehr gelernt und wenigstens die Hälfte meiner Hausaufgaben gemacht hätte. Aber ich glaube, ich war mehr daran interessiert, Fingerpicking auf der Gitarre zu üben, als meine Hausaufgaben auszuschwitzen.
Bei seinen Mitschülern ist Stan nicht sonderlich beliebt. So berichtet ein Jugendfreund dem Rogers-Biografen Chris Gudgeon, dass Stan großmäulig, streitsüchtig und ein erstklassiger Klugscheißer gewesen sei. Auch später ist der Umgang mit dem erwachsenen Stan nicht immer einfach. Er konnte, schreibt Gudgeon, laut, dickköpfig und sehr direkt sein, gelegentlich sei er auch prahlerisch, unsensibel und oft intolerant oder schlecht gelaunt gewesen.
Seine ersten künstlerischen Meriten, so erzählt Stan dem Artsbeat-Interviewer, erntet er in der High School. Dort hat er seinen ersten Auftritt mit 13 Jahren in einer Varietee-Veranstaltung. Ich war ganz schön ängstlich. Ich war kein sonderlich beliebtes Kind, und sich vor 1.000 Mitschüler zu stellen, zu singen und zu spielen war ganz schön angsteinflößend, aber alle schienen es zu mögen. Sie klatschten noch, als der Vorhang schon einige Minuten gefallen war. Seit dieser Zeit habe ich nie mehr ernsthaft an eine andere als an eine musikalische Karriere gedacht.
Als Teenager spielt Rogers Bassgitarre und singt in Rockgruppen, ehe er die Folkmusik für sich entdeckt.
1963 beginnt Stan Rogers, in den coffee houses seiner damaligen Heimatstadt Hamilton, Ontario, aufzutreten. Sein erster Gig ist ein zweistündiges Solokonzert im Ebony Knight, seine Gage 5 Dollar und eine Flasche billiger Wein. Sein Repertoire besteht aus Dylan-Songs, traditionellen Folksongs und Gospels, gelegentlich angereichert mit einem Hank-Williams-Stomp.
Er ist zunächst einige Zeit ein eher konventioneller Singer/Songwriter, bevor ihn seine Tante June aus Nova Scotia dazu überredet, Lieder über sein familiäres Umfeld und seine kanadischen Wurzeln zu schreiben. Von diesem Moment an wird Rogers ein kanadischer Partisan, dessen Lieder den einfachen Leuten eine neue Stimme gaben, die im Fischfang, in den Minen und den Farmen unseres großen Landes arbeiteten (Friedman).
Sämtliche Fotos in diesem Artikel: © Ariel Rogers, Abdruck mit freundlicher Genehmigung
Verwendete Quellen:
Zwischenüberschriften entstammen dem Liedtext That's How Legends
Are Made von der CD John Gorka: Land Of The Bottom Line
(High Street Records WD-1089); Abdruck des Liedtextes mit freundlicher
Genehmigung des Autors
Brian Morton: Stan Rogers FAQs unter
www.log.on.ca/stanrogers/srfaq.html
Verwendung des Materials mit freundlicher Genehmigung des Autors
Chris Gudgeon: An Unfinished Conversation
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