backFerner liefen...

im verwichenen Monat einige sehenswerte Filme, als da wären

1.) Woody Allens sozialpsychologische Künstlerstudie, die (fiktive, aber gut erfundene) Biographie des zweitbesten Jazzgitarristen nach Django Reinhardt, von Sean Penn dargestellt, aber nicht gespielt (keine Totale mit Gesicht und Fingern auf der Saite), unter dem Titel Sweet and Lowdown;

2.) unbekannte, im Filmmuseum München restaurierte Orson-Welles-Kurzstreifen, anlässlich des Oberhausener Festivals vorgestellt von der hinreißenden Welles-Witwe und Schauspielerin Oja Kodar, restaurierte Fassungen, satirisch-britisch und köstlich-komisch, allein die (deutschsprachige) Aufzählung österreichischer Süßspeisen in Vienna!, sowie am

3.) Mai auf ARD das eindringliche, hoffentlich demnächst preisgekrönte und dann noch einmal für alle, die es verpasst haben, zu wiederholende Porträt eines Sängers aus der Hölle: Gemeint ist der fast vergessene polnische Liedermacher und KZ-Überlebende Aleksander Kulisiewicz (1918-1982), dessen Lebensspuren Felix Kuballa im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks nachgegangen ist.

Kulisiewicz kam aus der Jugendbewegung und wurde nach der Besetzung Polens wegen eines antifaschistischen Artikels verhaftet. Er war der Sohn einer Musiklehrerin, spielte Geige und Jazzgitarre, war in Variétés und Zirkusveranstaltungen aufgetreten. Während der Lagerhaft in Sachsenhausen hatte er beschlossen – wie er später sagte: den Auftrag erhalten – , die Lieder seiner Leidensgenossen auswendig zu lernen und als "lebendes Archiv" zu tradieren. Im kollektiven Produktionprozess, der den Häftlingen das Überleben erleichterte, nahm er die Funktion des Gedächtnisses ein. Auf geheimen, verbotenen Zusammenkünften wurden die Widerstandslieder verbreitet; wenn Wärter in Hörweite waren und das Singen erlaubt war, wechselte man zu harmlosen Varianten.

"In den ersten Jahren sang ich ohne Begleitung, bis 1942/43", erzählte er später. "Die Kameraden kritisierten mich, schlugen manchmal Änderungen vor... 'Hast du ein bisschen Platz in deinem 'Archiv'?' Ich habe das alles im Geiste aufgeschrieben." Mehrmals während der 66 Monate seiner Haft ist Kulisiewicz nur knapp dem Tod entgangen, unter anderem, weil grausame medizinische Experimente an ihm vollzogen wurden. Nach der Befreiung verbrachte er drei Wochen damit, vom Krankenbett aus die im KZ entstandenen Lieder und Gedichte zu diktieren. Daraus entstand ein Manuskript von über 700 Schreibmaschinenseiten, das später den Grundstock seiner umfassenden Sammlung mit musikalischen, literarischen und zeichnerischen Lebenszeugnissen aus deutschen Konzentrationslagern bilden sollte. Seit 1964 arbeitete der Sänger mit Inge Lammel vom Arbeiterliederarchiv an der Akademie der Künste der DDR in Berlin zusammen, die ihn auch dazu bewegte, mit seinen Liedern an die Öffentlichkeit zu gehen.

Von den Liedern war der Jüdische Todessang von Rosebery d'Arguto, dem jüdischen Lagerchorleiter in Sachsenhausen, den Kulisiewicz 1940 kennenlernte, das bekannteste. Vor kurzem wurde es erneut von Daniel Kempin auf einer CD mit jiddischen Liedern aus der Zeit der Verfolgung eingespielt. "Wenn du einmal frei bist", hatte d'Arguto vor seiner Deportation und Ermordung in Auschwitz gebeten, "wirst du das so singen, dass die Juden, aber auch die Nichtjuden, bei meinem Lied weinen werden." Besser lässt sich die Vortragsweise, die Kulisiewicz übernahm, nicht beschreiben. In den sechziger und siebziger Jahren hat er den Todessang, die Hungerlieder, die Verse von Spott und Verzweiflung auf unvergessliche Art eindrucksvoll vorgetragen: auf internationalen Bühnen, im Rundfunk der DDR, beim Nürnberger Bardentreffen und auf der Waldeck. Stets wurde ohne Beschönigung intoniert. Niemand, der seine Auftritte erlebt hat, konnte sich dieser brüchigen, oft hart akzentuierten, stöhnenden und keifenden, dann wieder weichen und winselnden Stimme entziehen. In Gesang und Körperhaltung blieb der Sänger ein Abbild jener Zeit. "Meine Freunde von damals stehen alle mit mir auf der Bühne", erklärte er dem Publikum.

Für seinen Film ist Felix Kuballa mehrere Monate lang durch Europa gereist, hat Zeitzeugen und Sachsenhausen-Überlebende befragt und viele verschollen geglaubte Dokumentaraufnahmen ausgegraben. Derzeit ist von Aleksander Kulisiewicz keine Schallplatte mehr lieferbar; eine digitalisierte CD-Einspielung wäre eine Aufgabe, der sich unsere Verlage längst hätten annehmen sollen.

Eine Auswahl von Liedtexten, Gedichten, Aphorismen und autobiographischen Bemerkungen, übersetzt von Bettina Eberspächer, hat Claudia Westermann unter dem Titel Adresse: Sachsenhausen 1997 im Bleicher-Verlag, Gerlingen herausgegeben. Wer mehr über die Biographie wissen will, ist auf die unveröffentlichte Magisterarbeit von Andrea Baaske angewiesen (ein Exemplar liegt im Volksliedarchiv Freiburg).

Über Denk- und Mahnmale zur Erinnerung an die Barbarei der NS-Herrschaft wird zur Zeit sehr viel diskutiert. Kulisiewicz war kein "Mahnmal", er war ein sensibler Mensch mit Stärken und Schwächen. Er hat sich eine Aufgabe zugemutet, die ihn zeitlebens belastete und manchmal gewiss überforderte. Gelebt hat er zum Schluss in seiner Geburtsstadt Krakau, aber immer wieder zog es ihn auf die Bühne, sogar nach Deutschland, das in vielen KZ-Liedern als verhasstes Germania wiederkehrt. Nürnberg, Partnerstadt von Krakau und Ausrichterin des zeitweise wichtigsten Liedermacherfestivals der Bundesrepublik, hat das Archiv von den Erben des Sängers nicht übernehmen wollen; heute liegt es im United States Holocaust Memorial Museum in Washington. Keine Straße, keine Schule trägt seinen Namen, nicht in Deutschland und auch nicht in Polen. Warum eigentlich nicht? Dass die jüngere Generation mehr über die Verbrechen ihrer Vorväter weiß, als auf Denkmälern zu stehen pflegt, ist Menschen wie Aleksander Kulisiewicz zu verdanken.


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