backDie Greta Garbo des Folk

Anne Briggs

Erinnerungen an eine andere, überwundene Welt

Von Dieter Paul Rudolph

»She says I'm leaving here tomorrow / To find a new town far away«

Anne BriggsAllenfalls Insider vermögen 1970 jene rastlose Annie zu identifizieren, von der Sandy Dennys Song »The Pond and the Stream« erzählt. Erst im Jahr darauf erscheint (auf »Topic«) das Debütalbum dieses stetig fließenden Stromes Anne Briggs, und sofort nimmt sich »CBS«, einen »Folkboom« witternd, des neuen Talentes an. Fünf Alben in fünf Jahren sind das Produktionsziel, und selbst Nichtpropheten sehen voraus, daß diese, in nüchternen Kaufmannshirnen geborene Vorgabe den Fluß unnatürlich stauen und vollends aus seinem Bett tragen muß. Tatsächlich braucht es die Handvoll Alben nicht, schon 1973 ist alles vorbei. Anne Briggs zieht sich, wie von Sandy prophezeit, aus dem Gewerbe zurück, nach einer in jeder Hinsicht vollendeten und einer von der Künstlerin selbst verworfenen Platte. Ein Ereignis, das im vielstimmigen Chor von Britanniens fulminanten Sängerinnen wohl eine Lücke hinterläßt, als unersetzlicher Verlust jedoch erst später begriffen wird. Da ist Anne – es läßt sich ja nicht vermeiden – schon Mythos; die Greta Garbo des Folk, Jerome D. Salingers weibliches Pendant.

Anne Briggs1962 reißt ein Mädchen von zu Hause aus. Am 29.9.1944 in Toton/Nottinghamshire als Tochter einer Nordirin und eines Engländers geboren, hat sie nach dem frühen Tod der Eltern den größten Teil ihrer Jugend bei einer Tante verbracht, ein »schwieriges«, weil eigensinniges Kind, das Kunst studieren möchte, doch dann anläßlich eines von der Gewerkschaft organisierten Folkfestivals spontan auf die Bühne steigt, zwei Lieder zum Besten gibt – und plötzlich weiß, was es will. A.L. Lloyd, mit der künstlerischen Leitung des von Ort zu Ort ziehenden Spektakels vertraut, engagiert Anne sofort für den Rest der Tour, und das Mädchen, noch nicht volljährig, verläßt seinen Teich. In London, wo sie alle landen, tingelt Anne durch die Clubs und trifft einen flüchtig Bekannten wieder, den Nicht-mehr-Gärtnergehilfen und Noch-nicht-Gitarrenhelden Bert Jansch. Sowohl privat als auch beruflich vertiefen sie ihre Bekanntschaft, gemeinsame Songs entstehen, die man später in beider Repertoires finden wird.

Discographie

1963: (versch. Interpreten) »The Iron Muse« (Topic 12T 86)

1963: (versch. Interpr.) »The Edinburgh Folk Festival 1 & 2 (Decca LK 4546 und LK 4563)

1964: »The Hazards Of Love« (EP, Topic TOP 94)

1966: (versch. Interpr.) »The Bird In The Bush« (Topic 12T 135)

1971: »Anne Briggs« (Topic 12T 207)

1971: »The Time Has Come« (Columbia 491689 2, auch als CD)

1990: »Classic Anne Briggs« (CD, Fellside FECD 78, darauf die Beiträge von »The Iron Muse« und »The Bird In The Bush« sowie »The Hazards Of Love« und »Anne Briggs«)

1996: »Sing A Song For You« (CD, Fledg'ling FLED 3008, rec. 1973)

1999: »The Collection« (CD, Topic TSCD 504, wie »Classic Anne Briggs« plus die beiden Songs von »Edinburgh Folk Festival«)

The Collection

Nein, in ein »stehendes Gewässer« ist Anne hier nicht gesprungen. London, das daran arbeitet, sich den späteren Zusatz »swinging« redlich zu erwerben, ist in dieser ersten Hälfte der Sechziger auch quirliger Brennpunkt eines neuen Interesses für Folk. Das Archivieren überlieferten Materials, wie es etwa Lloyd oder Hamish Henderson, auch er ein Mentor Annes, betreiben, geht dabei Hand in Hand mit seiner teils behutsamen, teils revolutionären Umgestaltung durch junge Musiker wie Jansch, Davey Graham, die Watersons. Auf den ersten Blick paßt Anne Briggs eher in das Schema einer willigen Adeptin der Traditionalisten: Für Lloyds »Iron Muse«-Projekt, eine Liedersammlung aus der Zeit der Industrialisierung, singt sie zwei Titel, die erste EP »The Hazards Of Love«, 1963 eingespielt, konserviert ebenso eine streng nach den Regeln des Authentischen verfahrende A-cappella-Sängerin wie ihre vier Beiträge zu »The Bird In The Bush« von 1966.

Aber so einfach und umkompliziert ist die Geschichte nicht. Im Gespräch mit seinem Biografen Colin Harper überliefert Jansch eine Charakterskizze der jungen Anne: »Was Anne betrifft, so war sie einfach wild. Sie ging betrunken auf die Bühne und kippte jedesmal um. Wenn sie eines Songs überdrüssig wurde, brach sie ihn mittendrin ab und sagte: 'Okay, vergeßt's. Ich sing euch 'nen anderen.' Man muß verstehen, daß sie auf ihre Umwelt eher wie ein Punk wirkte und nicht wie etwas, das man in dieser Szene bisher gewohnt war.« Auch Lloyd weiß ein Lied von Annes anstrengendem Wesen zu singen: »Sie in ein Aufnahmestudio zu bringen ist so, als lockte man einen wilden Vogel in einen Käfig.« – Wild? Gewiß; aber es gibt ein Synonym für diese Form der Wildheit, und sie trifft den Kern des Phänomens genauer: Scheu. Wann immer Anne vor Publikum auftritt, hat sie Angst. Um sie zu überwinden, fletscht sie mit den Zähnen. Alle wilden Tiere, in die Enge getrieben, tun das.

Anne BriggsIm Sommer 1965 besucht Anne erstmals Irland, die Heimat ihrer Mutter. Für die Sängerin ist es ein Heimkommen, sie gehört hierher. England spielt fortan nur noch die Rolle des Ortes, an dem Geld verdient werden muß, um in Irland über die Runden zu kommen. Der neue Freund Johnny Moynihan, mit dem sie über die Insel zieht, wird 1966 Gründungsmitglied von Sweeney's Men, und Anne schließt sich dem Troß an. Zwar tritt sie nie als reguläre Mitstreiterin der irischen Folkrockpioniere in Erscheinung, wirkt jedoch inspirierend – und wird selbst inspiriert.

Anfang der Siebziger – Anne hat noch immer kein Album herausgebracht – steigt sie endgültig zum Geheimtip unter Londons Folkfreunden und Musikjournalisten auf, und jetzt muß der wilde Vogel halt doch zum Zwitschern in den Käfig.

Zehn Songs wählt sie für ihr Debüt aus, acht traditionelle (darunter altbekannte wie »Reynardine« und der Opener »Blackwater Side«) und zwei eigene, »Go Your Way« und »Living by the water« (Annes Liebe zum Wasser ist legendär und Gegenstand zahlreicher Anekdoten der Freunde). Sechs Stücke werden a-cappella vorgetragen, zwei mit Gitarrenbegleitung, zwei mit Bouzouki. Abgesehen von »Willie o' Winsbury«, einem Höhepunkt des Albums, wo auch Moynihan zum griechischen Nationalinstrument greift, ist »Anne Briggs« eine Sololeistung seiner Namensgeberin.


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