von Thorsten Bednarz
Es ist lange her, daß eine arisch blonde Marika Rökk im bunt bestickten Kleidchen von der großen Revuetreppe schwebte und allen vorträllerte, sie sei die Czardas-Fürstin. Damals hat man ihr es wohl geglaubt, und so hat sich dieses Image bis heute gehalten und liegt noch oft wie ein Schatten über der Folklore Ungarns.
Keine Frage, daß auf allen einschlägigen Großfesten mit ungarischer Beteiligung noch heute die obligatorische Zigeunerkapelle von Tisch zu Tisch fiedelt und die Geigenbögen nur so schluchzen läßt. Dazu noch den trockener vom Balaton, wie er auch die deutsche Fernsehwerbung erobert hat, und fertig ist das Klischee, das doch längst als so platt erkannt werden sollte wie es auch der gleichnamige See ist. Dem ist aber leider nicht so.
Immerhin schrieb selbst eine allgemein als
aufgeklärt geltende Zeitung wie der Guardian einst über Márta
Sebestyén und Muzsikás, sie spielen "... exotischen,
eingängigen Krach, den es anzuhören lohnt". Das war sicherlich
gut gemeint, gesteht den Ungarn aber im Grunde genommen kulturelles
Steinzeitniveau zu. An dieser Einstellung ist wohl auch Ungarn selbst Schuld,
waren die folkloristischen Darbietungen in diversen
Estradenprogrammen dem Kostümfest der 30er und frühen 40er Jahre
doch ähnlicher als der echten ungarischen Folklore. Vielleicht war es
aber auch nur einfacher für das sozialistisch geeinte Land, in dem alle
Menschen nur der allein selig machenden Arbeiterklasse angehörten, den
kulturellen Reichtum glattzubügeln und die Knitterfalten der verschiedensten
Kulturen mit Pusta-Soße einzuebnen. "Alles tanzt in einer Reihe und
die ist ungarisch", lautete die Devise. Für Juden, Deutsche, Russen
und Serben gab es kaum Platz in der offziellen Kulturpolitik. Vielleicht
hätte das auch zu sehr an das Erbe der Habsburger erinnert, mit dem
der sozialistische Staat nichts gemein haben wollte. Sowohl kulturell als
auch politisch war Moskau immer näher als das nur eine Autostunde entfernte
Wien.
"Jedes Land hat wohl so eine Touristenattraktion, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.", sagt Márta Sebestyén. "Wir bekämpfen das zwar nicht, aber mit unserer Arbeit hoffen wir doch auch zeigen zu können, wie groß der Unterschied zwischen unserem echten Erbe und der doch eher süßlichen Unterhaltungsmusik dieser Prägung ist." "Meist waren nur die Tanzschritte traditionell und die Musik dazu wurde von einem Musiker geschrieben, der sich so die entsprechende musikalische Untermalung vorstellte. Nur hatten diese Revuen im Moissejew-Stil mit der traditionellen Musik meist nichts gemein," ergänzt Daniel Hamar, der musikalische Kopf von Muzsikás.
Der Zugang zur echten traditionellen Musik ihres Landes lag für Márta Sebstyen in der Familie, wenn nicht gar schon in der Wiege. "Meine Mutter studierte an der wissenschaftlichen Universität in Budapest Musikethnologie bei Zoltán Kodály. Die ersten Feldaufnahmen und Transkriptionen dieser Musik, die ich je sah, waren die meiner Mutter. Nur sang sie nicht wie die Frauen in den Dörfern. Sie hat eine ausgebildete Stimme, ist Lehrerin, Chorleiterin. Als ich 12 Jahre alt war, fand ich auch die wirkliche Musik auf Platten aus dem Archiv der Akademie der Künste Ungarns. Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Augenblick: Ich war regelrecht geschockt von der Stimme einer moldawischen Sängerin. Ich versuchte dann immer, wie sie zu singen, zog auch bald selbst durch die Dörfer und sammelte diese Lieder." Aber das heißt nicht, daß Márta Sebestyén nur und ausschließlich Folkmusik hört und singt. Den Freunden ungarischer Rockmusik ist sie vielleicht auch aus einer Rockoper über den ersten ungarischen König bekannt. "Vor gut 10 Jahren fragte man mich, ob ich das machen würde. Ich sollte mit einer Rockband singen, mit einem elektrischen Bass, was ich nie zuvor getan hatte. Dann verstand ich aber die Absicht. Sie wollten etwas mit meiner Stimme ausdrücken, und dieser Ausdruck reizte mich, nicht die merkwürdige Verpackung." So darf sich Márta Sebestyén denn auf der Bühne auch als Königinmutter des ersten ungarischen Königs fühlen - Stefan I. Das war ihr erster, aber nicht ihr letzter selbst bestimmter Ausflug in diese Gefilde. Bald stand sie in einer weiteren Rockoper auf der Bühne und 1992 folgte ihr Solo-Album "Apokrypha" - eine Aufarbeitung traditioneller Lieder mit modernsten Sounds, die erste Folk TripHop Platte gewissermaßen und das schon Jahre bevor es in England oder Amerika beliebt wurde, kleine und erfolglose Folkpopsongs mit blubbernden Beats zu unterlegen und zu Hits zu machen. Aus heutiger Sicht war es für sie eine wichtige Erfahrung - wenn auch eine widersprüchliche.
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