back„Wenn Guinness singen könnte“

Seán Tyrrell

Der Melancholiker von der irischen Westküste

Er passt in keine Irish-Folk-Schublade: Der hagere Sänger und Saitenkünstler mit den traurigen Augen und dem Schnäuzer singt keine klassischen „rebel songs“, frönt erst recht nicht dem „Happy-go-lucky“-Folk, und mit Rock- oder New-Age-Crossover-Experimenten hat er's auch nicht. Seán Tyrrell ist ein Grenzgänger zwischen Tradition und Gegenwart. Selten schreibt er eigene Songtexte; sein Markenzeichen ist es vielmehr, Gedichten und Texten aus fremder Feder musikalisches Leben kompositorisch wie interpretatorisch einzuhauchen. Chris MacKenzie, Kritiker des schottischen Folkmagazins „Living Tradition“, stellte einen gewagten, immer wieder gerne zitierten Vergleich an: „Ich denke, wenn Guinness singen könnte, würde es sich wie Seán anhören – weich, aber mit einem Hauch Bitterkeit, und – natürlich – mit einem satten irischen Akzent.“ Und ich meine, er liegt mit dieser Einschätzung nicht ganz falsch.

Von Roland Schmitt

Dass Seán keine Fanscharen wie z. B. Christy Moore anzieht, lässt sich nachvollziehen. Er ist eben kein „Volkssänger“, und er will es nebenbei auch nicht sein. So fühlte sich Seán denn auch bei seinem Gastspiel in der ihm vertrauten, altehrwürdigen St. Wendeler „Felsenmühle“, einer guten Adresse für intime Folkkonzerte, nicht unwohl – auch wenn sich nur wenige Zuhörer eingefunden hatten. Eine kleine Europa-Tournee zum Ausklang des Jahrhunderts führte ihn, begleitet von seinem Kumpel aus Belfast, Fergus Feeley, in das winterlich gestimmte Nordsaarland: „Ich bin noch etwas geschlaucht vom Touren in Australien und den Staaten (übrigens gemeinsam mit Ex-Bothy-Band-Piper Paddy Keenan, d. V.), aber einige Gigs in Belgien, Holland, Deutschland und Österreich wollte ich trotzdem noch, wie vereinbart, durchziehen. Aber dann ist eine Pause dringend vonnöten.“ Sprachs und gab wie gewohnt sein Bestes. Er weiß, dass er – vor allem als „Spätberufener“ – eine große Karriere nicht mehr erwarten kann, dazu verlief sein Leben zu unstet, und Kompromisse mit dem Business sind seine Sache nicht.

Unterwegs zwischen New York und San Francisco

Discographie

„Cry Of A Dreamer“ (1994), Long Walk Music, LMCD 001 bzw. Hannibal HNCD 1391
„The Irish Folk Festival: Celtic Roots & Celtic Moods“ (1996), KlangWelten 74321.40764.2 (3 Songs)
„The Orchard“ (1998), Long Walk Music LMCD 002
„Ledwidge: Songs Of Peace“ (1999), Vredesconcerten Passendale/MAP Records VP 001

Dabei waren die „Startbedingungen“ gar nicht mal so übel. Seán wuchs in einer musikbegeisterten und sangesfreudigen Familie in Galway auf. Die Eltern waren eifrige Set-Tänzer, traditionelle Musik begleitete ihn von Anfang an. Sein Gitarrespiel kultivierte er im Stillen. Erst als Twen wagte sich Seán in aller Bescheidenheit an die Öffentlichkeit (mit Auftritten im lokalen „Folk Castle“). Nach der Lehrerausbildung ging er an eine Schule in Belfast, doch hielt es ihn nicht lange dort. Er siedelte 1968 in die USA über, tingelte in der Folkclubszene des New Yorker Greenwich Village und blieb letztlich in San Francisco hängen. Mit John „Henry“ Higgins und Seanin Conroy gründete er Anfang der 1970er Jahre das Trio Three Blind Mice, aus dem eine weitere Band namens The Freedom Folk mit Johnny Mulhern hervorging. Eine kurzlebige Episode zwar, doch sollte sich langfristig mit Mulhern eine enge Zusammenarbeit ergeben. Seine musikalische Passion war dann allerdings aus beruflichen Gründen fast zum Erliegen gekommen, doch der aus Dublin stammende Sänger Terry Smith ermunterte ihn, sie zu reaktivieren. Smith schwärmte ihm von den Songs David Callinans vor – mit nachhaltiger Wirkung, wie sich zeigen sollte.

Auf den Spuren irischer Poeten

Ende der 1970er Jahre kehrte Seán – nach einem weiteren Zwischenaufenthalt in New Hampshire, wo er der Band Apples In Winter angehört hatte – nach Irland zurück und ließ sich in einem Dorf im Co. Clare nieder. Einen Job fand er an der Universität von Galway. Seine Musik betrieb er noch als eine Art Hobby. Wie der Zufall es wollte, traf Seán bei Sessions den ehemaligen Moving-Hearts-Piper Davy Spillane, der inzwischen eine beachtliche Solokarriere gestartet hatte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft, und für Spillanes Soloalbum „Shadow Hunter“ steuerte Seán bereits zwei Songs bei, darunter die Vertonung eines Gedichts von W. B. Yeats („Host Of The Air“). Er durfte diese auch singen und brachte nebenbei sein Können auf dem Mandocello zu Gehör. Noch war aber die Zeit nicht reif für größere Taten. Seán, der seinen Unterhalt inzwischen als Muschelzüchter bestritt, blieb zögerlich, wollte den Sprung ins Profilager noch nicht wagen. Um seine künstlerische Unabhängigkeit wahren zu können, gründete er ein eigenes Label namens „Long Walk Music“. Inzwischen hatte er genügend Material für ein erstes Album und auch etliche Freunde, die ihm bei der Realisierung helfen wollten. Davy Spillane brachte seinen Produzenten (und Multi-Instrumentalisten) P. J. Curtis mit, weitere namhafte Sessionleute (darunter Akkordeonist Máirtin O'Connor, Fiddler Tommy Peoples und Gitarrist Johnny Mulhern) folgten mit ins Studio. Im Frühjahr 1994 erschien das trefflich „Cry Of A Dreamer“ betitelte Werk, seinerzeit noch im Eigenverlag.

Im Prinzip lassen sich die 14 Songs und Balladen in zwei Kategorien einteilen: in von Seán vertonte Gedichte längst vergessener irischer Poeten wie etwa J. B. O'Reilly oder Louis MacNiece – deren Texte hatte er in der Anthologie „1000 Years of Irish Poetry“ entdeckt – und in zeitgenössische Stücke irischer Songwriter, u. a. von seinem Weggefährten Johnny Mulhern oder dem eingangs erwähnten David Callinan. Die Grundstimmung des Albums ist eher melancholisch, nachdenklich, vor allem Trennungsschmerz, Einsamkeit und Ungemach in allen Facetten beherrschen die Themenpalette. Trotzdem verfällt Seán nie in Sentimentalität oder Depression, lässt dank ausgeklügelter Arrangements immer ein Fünkchen Hoffnung durchschimmern, z. B. bei der Emigranten-Ballade „Isle Of Inisfree“ oder der Loser-Story von „Mattie“. Midtempo-Songs wie „Only From Day To Day“ oder „Fortune For The Finder“ wirken trotz tiefsinniger Texte gar unerwartet optimistisch, wohl auch dank eines swingenden Country-Touchs. Jedenfalls ist die Mischung stimmig, die meisten Melodien bleiben „hängen“, Seáns gefühlvolle und markante Stimme passt wie auch die adäquate instrumentale Umrahmung optimal.


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