Von Kurt Reichmann
Anfang des 19. Jahrhunderts herrschte in weiten Teilen der Gebiete Hessen-Nassau, Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel bittere Armut. Sie hatte verschiedene Ursachen: Einerseits waren die Familien kinderreich, andererseits wurden durch Erbteilung die Landstücke immer kleiner und damit eine rentable Bewirtschaftung unmöglich. Die Folge war eine heute kaum noch vorstellbare Not der Landbevölkerung. Um zusätzliche Verdienstquellen zu erschließen, begannen die Bauern und Landarbeiter in den zwanziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts damit, im Winter Besen und Fliegenwedel aus Holzspänen herzustellen und diese im Sommer als Hausierer in der Umgebung zu verkaufen. Dieser Handel dehnte sich bald über die Landesgrenzen aus die sogenannten Landgänger gelangten bis nach England, Frankreich und sogar Russland. Schnell stellte man fest, dass sich die Waren besser verkaufen ließen, wenn man von tanzenden und Drehleier spielenden Mädchen begleitet wurde. Und schon wurden Tanzen und Musizieren immer wichtiger und die hübschen Mädchen immer bekannter. Man begriff schnell, dass sich so leicht viel Geld verdienen ließ. Aus der Gemeinde Neu-Anspach im heutigen Hochtaunuskreis ist bekannt, dass fast in jedem Haus musiziert wurde. Man verdiente Geld durch Gesang und Tanz auf den Straßen und in den Wirtshäusern. Den ganzen Sommer über waren die Landgänger unterwegs und kehrten im Herbst, freudig begrüßt von den Daheimgebliebenen, in ihre Dörfer zurück.
Der Erfolg der Drehleier-Mädchen rief natürlich auch die ersten Seelenverkäufer auf den Plan. Sie verpflichteten die naiven Mädchen in den Dörfern des Taunus und der Wetterau, z. B. in Espa, Langgöns, Kleeberg und Neu-Anspach, selbst im Kreis Wetzlar und köderten die Eltern damit, dass ihre Kinder viel Geld nach Hause schicken würden. In den genannten Dörfern waren oft im Sommer keine Jugendliche mehr anzutreffen, denn in der Regel gingen die Kinder auf die Reise, sobald sie konfirmiert waren. Die Seelenverkäufer brachten die Mädchen in Tanzkneipen und Animierbetriebe, deren Kundschaft meist aus Seeleuten oder Goldgräbern bestand. So kamen die Mädchen aus Hessen in fast alle Länder Europas, allen voran England, aber auch nach Australien, Kuba oder Nordamerika besonders Kalifornien wurde ein begehrtes Ziel, da die Goldfelder gute Geschäfte versprachen. Der Mädchenhändler Peter Sänger aus Münster bei Fauerbach, der stets eine weiße Weste und eine goldene Uhrkette trug, war derjenige unter den Werbern, der nicht nur in seinem Heimatgebiet, sondern auch in Neu-Anspach die geschilderte Not für seine Zwecke ausnütze, wie ein erhaltener Vertrag mit einem Musiker aus Anspach zeigt. Manche der fahrenden Musiker, ja ganze Familien, fanden nicht mehr den Weg nach Haus und blieben verschollen. Von den vier Töchtern des Friedrich Jakob Henrici und seiner Frau Katharina kam nur Lisette Katharina zurück. Eine Schwester heiratete in Manchester, England, während die beiden anderen in Sydney bleiben. Ein kleiner Teil der jungen Frauen kam, auch durch Prostitution wohlhabend geworden und fein angezogen, in die Dörfer zurück und ermutigte die Daheimgebliebenen zur Reise. Das Leben der meisten Hurdy-Gurdy-Girls, wie sie in England genannt wurden, war aber hart, und viele kehrten gebrochen, krank und mittellos nach Hause zurück. Oft wurden die Mädchen von ihren Agenten zur Prostitution gezwungen und rutschten ins kriminelle Milieu ab. Auf den Goldfeldern Kaliforniens wurden die Mädchen wegen ihrer Herkunft auch als Rhinelander bezeichnet, in England als Hessian Broom Girls.
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Mehr über die Hurdy-Gurdy-Girls im Folker! 2/2000