Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder drei CDs, die aus der Masse herausragen:
TOUMANI DIABATE & BALLAKE SISSOKO
New Ancient Strings
(Hannibal/Indigo, HNCD 1428)
8 Tracks, 53:25
Es gibt Rezensionen, die kann man nicht schreiben, während das Album läuft, um das es geht. So hier: Denn was dieses reine Kora-Glanzstück an Stimmungen erzaubert, kann man nicht im Vorbeihören bewältigen. Toumani Diabate und Ballake Sissoko haben an ihrem Instrument ein Feingefühl und eine Intensität entwickelt, die sich beim Hörer an der aufgerichteten Körperbehaarung knisternd entlädt. Zwei Männer, zwei Koras, das macht zusammen 42 Saiten an 4 Händen. Das ist weit weniger, als ein Pianist an Vorrat hat jedenfalls die Saiten betreffend. Klanglich ist der Vergleich aber nicht weit entfernt. Immer wieder fällt mir beim Hören das Köln-Concert von Keith Jarrett ein: Das geht auch durch alle Stimmungslagen, mal stark komprimiert und deftig groovend, mal verzückt das eigene Augenzwinkern feiernd. Ein Instrument zu spielen bekommt bei »New Ancient Strings« wieder seine ursprüngliche Doppeldeutigkeit zurück.
Diabate und Sissoko, schon den Namen nach alter Griotfamilien zugehörig, stammen aus Bamako in Mali. Bereits ihre Väter waren anerkannte Virtuosen, und auch sie spielten bereits gemeinsam. Über technische Fertigkeiten und ein tiefes Verständnis für die klanglichen Möglichkeiten sowie die uralte Tradition der Kora wird hier nicht die Rede sein, die sind Voraussetzung für solch ein Album. Aber Diabate und Sissoko haben auch den Geist ihrer Kunst verinnerlicht und fortgeführt, er schwingt mit in allen Tönen. Und wie unsinnig die westliche Unterscheidung zwischen U- und E-Musik ist, wird hier beispielhaft vorgeführt. Ausgefeilte Kunst und angenehme Unterhaltung werden auf das Vorzüglichste zusammengebracht. Das Album ist schlichtweg ergreifend: Musik, die mit den Ohren flirtet.
Luigi Lauer
SCHÄL SICK BRASS BAND
Tschupun
(ACT 926429)
16 Tracks, 64:24; mit Infos
Ich will von vornherein die Karten auf den Tisch legen: Ich bin ein Fan dieser Gruppe. »Tschupun« ist erst die zweite Produktion dieser ungewöhnlichen Musikervereinigung aus Köln am Rhein. Sie knüpft nahtlos an das vielbeachtete und preisgekrönte (Preis der Deutschen Schallplattenkritik) Erstlingswerk »Majnoun« der SSBB an. Erneut werden »althergebrachte volksmusikalische Landkarten ... anarchisch freudig durcheinandergewirbelt«, wie Guenter Hottman in der ehrwürdigen FAZ notierte. Zunächst zu den nackten Fakten: Die Schäl Sick Brass Band, das sind unter der Leitung des gebürtigen Bayern und studierten Jazzgitarristen Raimund Kroboth (an Waldzither, Gitarre und Mandola) zunächst einmal fünf Blechbläser (mit Tuba statt Baß) und zwei Perkussionisten. Dann ist da natürlich die Stimme der SSBB: Maryam Akhondy. Die Perserin steht für den offensichtlichen Hang der Band zu orientalischen Klängen. Für weitere multikulturelle Farbtupfer sorgen u.a. der nigerianisch-deutsche Rapper Adegoke Odukoya und die bulgarische Sängerin Iwanka Iwanova. Damit kann das faszinierende (musikalische) Spiel ohne Grenzen losgehen. Auf Track 1 stellt sich die Schäl Sick Brass Band in einem »texanisch-bayrischen Emigranten-Song« in 26 Sekunden selbst vor. Dem schließt sich ein nordiranischer Volkstanz an, der jedoch als »Oriental-Groove-Knaller« präsentiert wird und sich bei jeder Party als unwiderstehliche Aufforderung zum Tanz eignet. Besinnlicher dann das Klagelied einer kurdischen Mutter, das einmal mehr die Stimme von Maryam Akhondy in den Mittelpunkt stellt. Daß Jodeln nicht nur eine alpine Angelegenheit ist, zeigt Maryam Akhondy als »Jodlerin from Teheran« und setzt dann mit der »Alpinen Maryam« gleich noch einen drauf. Platzmangel an dieser Stelle lassen mich die weiteren Stationen des SSBB-Streifzugs durch Kulturen und Jahrhunderte nur noch zusammengefaßt darstellen. Es geht mit jeweils unterschiedlichen musikalischen Schlagzahlen noch nach Surinam, in die Karibik, nach Indien, Bulgarien und Serbien, bis Lydia Kavina am »Thereminvox«, laut Booklet das »geheimnisvolle Vorgängerinstrument« des Synthesizers (noch nie gehört, aber man lernt ja nie aus), für einen besinnlichen Ausklang sorgt. Um es sportlich auszudrücken: »Tschupun« ist ein absoluter musikalischer Volltreffer.
Michael Kleff
TI-COCA / TOTO BISSAINTHE
Haiti
(World Network 32.373)
13 Tracks; 58:47; mit Infos
CARMEN FLORÉZ / SUSANA BACA / ALTURAS
/ MÁXIMO DAMIÁN / CUARTETO MUSICAL PAUZA DE JAIME GUARDIA /
RAÚL GARCÍA ZÁRATE / FÉLIX CASAVERDE / LOS ROMANTICOS
DE SICAY
A Mi Patria / Peru
(World Network 32.374)
18 Tracks; 72:52; mit Infos
SONIA M´BAREK
Takht / Tunesia
(World Network 32.375)
7 Tracks, 73:55; mit Infos
PETRO-LOUKAS CHALKIAS & KOMPANIA
Greece/Epirus
(World Network 32.376)
9 Tracks, 70:45; mit Infos
DJIVAN GASPARYAN
Heavenly Duduk / Armenia
(World Network 32.377)
11 Tracks, 65:57; mit Infos
SOHRAB FAKIR / MOHAMED FAKIR / GHOUS BUX
BROHI / MOULA BUX SAND / ALLA BACHAYO KHOSO
Sindhi Soul Session / Pakistan/Sindh
(World Network 32.378)
8 Tracks, 64:27; mit Infos
TAJIMA TADASHI
Master Of Shakuhachi / Japan
(World Network 32.379)
8 Tracks, 72:05; mit Infos
Die Statistiker haben es spitz ausgerechnet: Mehr als jede dritte Network-CD hat eine nationale oder internationale Auszeichnung erhalten. In der Reihe »World Network« sind die Frankfurter Weltmusiker aus Leidenschaft, Christian Scholze und Jean Trouillet, nun in eine neue Runde gegangen. Sie haben das mittlerweile 7. (!!!) World Network-Set vorgelegt. Das sind die CDs 43 bis 49 in dieser Reihe. Preiswürdig ist auch diese Kollektion. Doch den Sprung in die World Music Charts Europe dürfte wohl kaum eine dieser CDs schaffen. Dafür fehlt einfach der druntergelegte Beat, um die Scheiben für die hippen World Music-DJs spielbar zu machen. Vielmehr haben Scholz und Trouillet in altbewährter Zusammenarbeit mit Jan Reichow vom WDR darauf gesetzt, herausragende Sänger und Instrumentalisten abseits der kommerziell dominierten Weltmusikszene zu präsentieren. Nachdem bereits in den letzten Jahren nicht mehr nur auf bereits vorliegende Musikproduktionen zurückgegriffen werden mußte und Aufnahmen vor Ort realisiert werden konnten, sind auch einige der neuen CDs eigens für die World Network-Serie eingespielt worden. Für alle sieben vorliegenden CDs gilt einmal mehr, daß die Booklets mit zahlreichen erläuternden Informationen zu den einzelnen Interpreten, Titeln, Musikstilen und kulturellen Besonderheiten der einzelnen Länder und Regionen aufwarten. Je nach musikalischem Geschmack ist die »Eingängigkeit« der einzelnen Produktionen allerdings sehr unterschiedlich. Mein persönlicher Favorit ist die »Haiti«-CD mit dem Troubadour Ti-Coca und der Sängerin Toto Bissainthe. Von der 1994 gestorbenen »Grande Dame« Haitis finden sich auf der CD einige Aufnahmen vom WDR-Folkfestival 1979, die von der grandiosen Ausdruckskraft ihrer Stimme zeugen. Weniger spektakulär kommt Ti-Coca mit seinem kleinen Ensemble daher. Doch genau darin liegt der eigentliche Reiz der 1998 mit ihm eingespielten Aufnahmen. Es ist die spielerische Leichtigkeit, mit der hier alte musikalische Traditionen am Leben gehalten werden, eine Mischung aus afrikanisch und lateinamerikanisch geprägten Tanzmelodien. Man muß nicht, kann aber, in die Geschichten von Simbi, dem Geist der Meere, Erzulie, der Göttin der Liebe, und von Baron Samedi, dem Gott der Toten, eintauchen, um Stück für Stück dieser CD zu genießen. Ich fühle mich von Ti-Coca, der sich von Kontrabaß, Akkordeon, Banjo und Perkussion begleiten läßt, zu einer Party eingeladen.
Trotz mancher Ballade geht es auch beim Thema »Peru« eher beschwingt zu. Die acht Solisten und Ensembles zeigen eindrucksvoll, daß die Musik dieses lateinamerikanischen Landes weit mehr zu bieten hat als die hierzulande weit verbreitete »Andenfolklore«. So gemischt die Bevölkerung Perus ist, so facettenreich stellt sich auch das Musikgeschehen dar, mit all seinen von der jeweiligen Region her geprägten Eigenheiten, die sowohl auf europäische wie schwarzafrikanische Einflüsse zurückgehen, die sich hier vermischt haben. Herausragend Susana Baca, »die lyrische Stimme des schwarzen Peru«. Auch wenn ihre Lieder zum großen Teil der leidvollen Geschichte ihrer Vorfahren in den Zuckerrohr- und Baumwollfeldern des Landes gewidmet sind, so schwingt in ihrem Gesang doch etwas mit, was den Zuhörer automatisch in eine positive Grundstimmung versetzt.
Alle anderen CDs des neuen World Network-Sets bedürfen wohl des mehrfachen Anhörens, damit sich die Ausstrahlungskraft der darauf enthaltenen Musik voll entfalten kann. Ob es um das Länderporträt aus dem pakistanischen Sindh mit Aufnahmen vom Sufi-Festival in Bhit oder um den von der jungen Tunesierin Sonia M´Barek präsentierten klassischen arabischen Gesang geht, um die von den Gebrüdern Chalkias am Leben erhaltene Klarinetten-Tradition in der griechischen Region Epirus, den legendären Duduk-Spieler Djivan Gasparyan aus Armenien oder den Japaner Tajima Tadashi, den Meister an der Bambusflöte Shakuhachi, die vorliegenden sieben neuen CDs aus dem Hause Network sind ein weiterer unerläßlicher Baustein für eine Sammlung von Musikstilen und Interpreten aus aller Welt, »die bei aller Offenheit gegenüber neuen Anregungen fest in der Tradition ihrer Heimat verwurzelt sind und sich keiner Zeitgeist-Strömung angepaßt haben« (aus der Begründung der Jury des Internationalen Schallplattenpreises).
Michael Kleff