von Roland Schmitt
Es ist schon ein Kreuz, wenn man unverschuldetermaßen als Bruder eines Menschen geboren wird, der fürderhin als öffentliche Person, als Starsein komplettes familiäres Umfeld prägt und dominiert. Den ehrgeizigen Versuch, aus dem Schatten eines solchen brüderlichen Überfliegers herauszutreten, wagten schon einige aus der Rock & Folk-Szene: z. B. Christy Moores Bruder Barry, der sich ein Pseudonym zulegte (,Luka Bloom') und als moderner Singer/Songwriter zeitweise angesagt war oder ,Mike McGear' (alias Michael McCartney), seines Zeichens Bruder von Ex-BEATLE Paul, der mit dem Comedy-Poptrio THE SCAFFOLD (wer erinnert sich nicht an "Lily The Pink") aufhorchen ließ. Und da gibt es noch einen, der ganz konsequent und mutig den bürgerlichen Namen beibehielt und sich um den bis heute andauernden Wirbel um seinen "rollenden" Bruder Mick einen feuchten Dreck scherte: Chris Jagger. Den faszinierte zwar auch Rhythm & Blues, und er bewunderte wohl lange Zeit seinen berühmten, vier Jahre älteren Bruder, aber ansonsten war für ihn von Anfang an klar, daß er seinen eigenen Weg gehen wollte (und mußte).
Viele kennen Chris eben nur als den "kleinen Bruder von Mick Jagger", seine eigenen musikalischen Aktivitäten sind bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Doch das soll und kann sich vielleicht jetzt noch ändern. Christian Thiel, Chef des Hamburger Labels ,Hypertension', "entdeckte" für sich im vergangenen Jahr den umtriebigen, im Südosten Londons lebenden Globetrotter, der gerade mit zwei Kumpels ein Trio (ATCHA ACOUSTIC) sowie eine eigene kleine Plattenfirma (,Latent Talent') gegründet hatte. Mit dem Fiddler und Akkordeonisten Charlie Hart (Ex-BALHAM ALLIGATORS, Ex-Ronnie Lane's SLIM CHANCE) arbeitete Chris schon seit Jahren zusammen, Blues- und Boogiepianist Ben Waters war relativ kurzfristig zu den beiden gestoßen. Und im Sommer 1997schließlich legten die drei ihr erstes gemeinsames Album unter dem vielsagenden Titel "From Lhasa To Lewisham" vor. Wer die trendgeile Musik- und Medienszene in Großbritannien kennt, kann sich ausrechnen, daß von dieser CD nur wenig Notiz genommen wurde. Also versprechen sich Jagger & Co. einiges mehr vom deutschen Markt. Und Christian Thiel, der sich von dem schräg-bunten Crossover ATCHA ACOUSTICs begeistert zeigte, glaubt, daß hierzulande bei Menschen mit offenen Ohren und Liebe zu beseelter und handgemachter Musik die drei ankommen werden. Soeben ist die neu abgemischte Fassung von "From Lhasa To Lewisham" erschienen, der auch eine Deutschlandtournee im Mai/Juni und diverse Open Air-Gigs im Sommer `98 folgen werden.
"Chris Jagger" (1973),
GM/Philips |
Wie kam es zu ATCHA ACOUSTIC? Was sucht der eingefleischte Individualist Jagger in einer Band? Und was hat er mit diesem Trio vor? Jagger singt und spielt mit seinen Kumpels eigentlich nur das, was ihm und ihnen gefällt und einfällt, was ihn und sie über die Jahre hinweg beeinflußte und beeindruckte. Vor allem Chris Jagger war und ist ein neugieriger und ruheloser Typ. Zwischen Blues und Beat aufgewachsen, sah er nicht nur in der Musik eine berufliche Perspektive. Die Schauspielerei hatte es ihm mindestens ebenso angetan, und eigentlich machte ihm auch das Schreiben Spaß. Und so reiste er in den 60er und 70er Jahren vor allem durch die Weltgeschichte, spielte da und dort Theater (u. a. in Israel und in der BRD - am Staatstheater in Darmstadt!), betätigte sich als freier Journalist, schrieb z. B. Reportagen für den ,Guardian'. Der asiatische Kontinent hat(te) es ihm besonders angetan. 1968 zog Chris gen Osten, und über die Türkei, den Iran, Afghanistan und Pakistan gelangten er und seine Hippiefreunde schließlich nach Nordindien und Nepal: "Damals war es einfach zu heiß in der Ebene. Wir konsumierten große Mengen erstklassigen Haschischs. Ich blieb ein Jahr in Indien, vor allem in den Bergen im Norden, wo ich Singen lernte, was mir über die Jahre half, meine Stimme zu erkennen und mit dem Atmen zurechtzukommen."
Mehr über Chris Jagger im Folker! 3/98