back Die Besondere

Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder CDs, die aus der Masse herausragen:

DEUTSCHLAND DIVERSE -->  Armin T. Wegner
DEUTSCHLAND DISSIDENTEN & JIL JILALA -->  Tanger Sessions
DEUTSCHLAND TINE KINDERMANN -->  Schamlos schön
EUROPA LANDOR -->  Griffig
AFRIKA FEMI KUTI -->  Day By Day
NORDAMERIKA PETE SEEGER -->  At 89

DIE BESONDERE – DEUTSCHLAND
DIVERSE
Armin T. Wegner. Bildnis einer Stimme. Pictures Of A Voice. Görünen Ses ...

(Hg. v. Ulrich Klan im Auftrag der Armin-T.-Wegner-Gesellschaft, Wallstein-Verlag, ISBN-10: 3-8353-0405-4, go! wallstein-verlag.de)
Do-CD, 35 Tracks, 146:50

Deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit (E-)Migrationshintergrund wurden nach 1945 eher aus dem Lesebuchkanon verbannt denn dorthin zurückgeholt. Gründlich vergessen wurde Armin T. Wegner, Lyriker, Dramatiker, Globetrotter aus Wuppertal, aufgewachsen in Breslau, früh als politischer Autor präsent: Proteste gegen die russischen Staatsgefängnisse, gegen den Krieg 14/18, gegen den Völkermord an den Armeniern 1915, gegen die Verfolgung jüdischer Mitbürger im mutigen Brief an Hitler vom 20. Februar 1933 – freilich nicht „als einziger prominenter Autor in Deutschland nach der Machtübernahme“, so der Herausgeber, man denke nur daran, was Ricarda Huch über das „Reich der Hölle“ schrieb! – und 1964 gegen den Kalten Krieg („Lied aus der blutigen Stadt Berlin“). In der Weimarer Republik forderte Wegner den „Umsturz des Ich“ und die Freiheit der „Liebe von Weib zu Weib und [...] von Mann zu Mann“; er trat als Schauspieler auf und schrieb mit seiner Gefährtin Lola Landau das Märchenspiel Wasif und Akif . Seine wohltönende Stimme ist mit einem Rundfunkdokument von 1954 vertreten, sonst rezitieren versierte Interpreten wie Elmar Nettekoven und Ulrike Schloemer. Inspiriert von Wegners „Ein Vermächtnis in der Wüste“ schrieb Ulrich Klan einen Trialog für Duduk, Baglama und Viola. Dem mitunter schwer erträglichen Pathos der Frühwerke entspricht folkige Wandervogelromantik von Saitenspiel; die Rap-Performance von Muyisa Mbasa beschwört kongenial das Warenhaus aus dem Lyrikband Das Antlitz der Städte . Im Beiheft erscheinen Texte in deutscher, fallweise auch in türkischer, armenischer, hebräischer, englischer Sprache und so weiter – weltläufig waren ja auch die Interessen und biografischen Stationen des Autors. Eine Zeittafel zu Leben und Werk hätte die Übersicht erleichtert. „Der Riese Landschaft“, eine Komposition von George Dreyfus, ist als Liveaufnahme aus der Wuppertaler Citykirche hoffnungslos untersteuert. Ansonsten eine vorzügliche Produktion, die Maßstäbe setzt.

Nikolaus Gatter

 

DIVERSE – Armin T. Wegner


DIE BESONDERE – DEUTSCHLAND
DISSIDENTEN & JIL JILALA
Tanger Sessions

(Exil 91674-2/Indigo, go! www.indigo.de)
8 Tracks, 55:31

25 Jahre ist es her, dass die Dissidenten mit ihrem Zweitling Sahara Elektrik Weltruhm erlangten. Entstanden in Tanger unter Mitarbeit der marokkanischen Helden Lem Chaheb ist das Album ein Referenzpunkt der Weltmusik. Mit Tanger Sessions einen Nachfolger à la Tubular Bells Part II abzuliefern, lag nahe. Aber wie unberechtigt war die Furcht, Friedo Josch, Marlon Klein und Uve Müllrich könnten uns mit einem Plagiat ihrer selbst abspeisen: Stromgitarren ohrfeigen bereits beim Opener die Zweifler, eine Drehleier begrüßt die nächste Dekade. E-Gitarre? Drehleier? Zuerst zur Gitarre: Die Dissidenten spielen diesmal mit ungewohnter Härte. Dafür haben sie mit Roman Bunka und Jens Fischer von den experimentellen World-Kollegen Tri Atma zwei zu erwartende alte Wegbegleiter gewonnen, aber mit Guano-Apes-Brettspieler Henning Rümenapp wird die Gitarrenbegleitung zum bisher ungehörten Gewitter. Bereits damit wird klar, die Dissidenten sind auch 2008 ihrer Zeit weit voraus. Und damit zur Drehleier. Von der Klangfarbe her oft mit dem orientalischen Kulturkreis assoziiert, ist sie in der arabischen Musik gleichwohl fast unbekannt. Die Dissidenten gehen nun den nahe liegenden Schritt – mit der Stimmigkeit, die nur ihnen eigen ist: Die Leier schmiegt sich in den Sound, tanzt bestimmend durch die Kompositionen, führt den Hörer in Trance, verführt zur Ekstase. In keinem Moment wirkt die Klangfarbe aufgesetzt, und so findet das Instrument eine wie selbstverständliche neue Heimat. Gespielt werden die Drehleiern von den Ausnahmekönnern Elke Rogge (Ex-Hölderlin-Express) und Till Uhlman (Ulman), die ihrem Ruf mehr als gerecht werden. Die gewohnt überragende Zusammenarbeit mit marokkanischen Künstlern – hier Jil Jilala -, die vertraute Art Melodien zu entwerfen und der erneut gelungene Spagat zwischen tanzbaren Beats und traditionellen Elementen werden fast zur Selbstverständlichkeit. Von den Dissidenten erwartet man nicht weniger als einen Geniestreich. Und was liefern sie ab? Einen Geniestreich.

Chris Elstrodt

 

DISSIDENTEN & JIL JILALA – Tanger Sessions


DIE BESONDERE – DEUTSCHLAND
TINE KINDERMANN
Schamlos schön – 13 alte Lieder aus Deutschland

(Oriente Musik RIENCD67/Fenn Music Service, go! www.fenn-music.de)
Promo-CD, 13 Tracks, 49:21, mit allen dt. Texten u. dt./engl. Infos

Die Schwierigkeiten, in heutiger Zeit deutsche Volkslieder zu interpretieren, sind bekannt. Angst vor dem Kitsch, vor dumpfem Nazigegröle, vor dem stumpfsinnigen Schunkeln und Mitklatschen des Musikantenstadels – deutsche Volkslieder zu singen bedeutet oft, sich auf dünnem Eis zu bewegen. Nichtsdestotrotz gab und gibt es immer wieder angemessene Versuche, den Schatz der deutschen Volksliedkultur zu heben und zu pflegen. Nun auch von einer Künstlerin aus Berlin, Tine Kindermann, die seit 15 Jahren in New York lebt und dort kürzlich mit US-amerikanischen Musikern – darunter Marc Ribot und Greg Cohen von der Tom-Waits-Band, Frank London von den Klezmatics und Glenn Patscha von Olabelle – ins Studio ging, um uns zu zeigen, wie tiefsinnig, wie aktuell, wie schamlos schön unsere deutschen Lieder aus uralter Zeit sind. Mit großem Ernst und viel glaubhafter Unschuld in der Stimme singt und interpretiert die gelernte Theatermalerin und freie Künstlerin neben bekannteren Liedern wie „Es waren zwei Köngiskinder“ oder „Maria durch ein Dornwald ging“ auch ein paar weniger bekannte. Durch ihren selbstvergessenen, natürlichen, nahezu einsamen Gesang gibt sie den Liedern ihre ursprüngliche Bedeutung, ihre eigentliche Wirkung zurück. Es ist, als höre man noch einmal die Geschichten, Märchen, Mythen, Geheimnisse längst vergangener Tage. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das völlig unverkrampfte und unbefangene Spiel der New Yorker Downtown-Musikanten. Manche Lieder klingen wahrhaftig wie lupenreine Tom-Waits-Songs, andere könnten Musik für einen Film sein, dann Lieder wie Meditationen, Lieder, die Kindheitserinnerungen wecken, Liebeslieder, und immer wieder Lieder über den Tod, düster und schön. Eine Wahl-New-Yorkerin zeigt uns, wie lebendig unsere musikalische Vergangenheit sein kann und wie klar manche unserer verschütteten Gefühle sind. Darüber hinaus stellt sie deutsche Volkslieder auch gleich noch in einen interkulturellen Zusammenhang – dieses Album ist ein Meisterwerk!

Kai Engelke

 

TINE KINDERMANN – Schamlos schön


DIE BESONDERE – EUROPA
LANDOR
Griffig

(Eigenverlag, go! www.landormusic.com)
12 Tracks, 51:51, mit dt. Infos

Schon die ersten Töne bewirken beim Rezensenten zugleich eine Ent- und eine Anspannung, und dieses Gefühl hält sich durchs erste Hören des gesamten Albums, und auch durchs zweite und weitere. Zunächst klingt es gar nicht nach Irish Folk, sondern nach modernem, amerikanischem Jazzpop, aber es ist eine Neuvertonung des Traditionals „Spancil Hill“, wenn auch – dergleichen hört man noch öfter im Laufe der 51 Minuten – vorgetragen mit einer soulig-jazzigen weiblichen Stimme wie auch einige Countrysängerinnen sie haben. Wobei doch immer wieder typisch irische Flötenpartien die Lieder bereichern – zum Beispiel ein 9/16-Takt-Jig in einem 4/4-Takt-Song. So richtig irisch wird es aber bei den Instrumentals, den Reels, den Polkas und auch den ruhigeren Gitarrenstücken, um dann sogleich den ethnischen Horizont zu erweitern in andere keltische Gebiete wie die Bretagne und Galicien, aber auch nach Südosteuropa – Bulgarien, Kroatien, Rumänien – und nach Skandinavien, also an sich ganz wie es derzeit viele der modernen Celtic-Folk-Bands tun. Diese in Wien ansässige Südtiroler Studentenband aber hat schon bei diesem ihrem Debütalbum einen Bandsound entwickelt, der mit dem der keltischen Avantgarde von den Inseln und aus Übersee mithalten kann. Vieles klingt nach Flook, manches ist gar aus ihrem Repertoire, aber Landor sind keine Epigonen, sondern komponieren und arrangieren neu, bringen bei mehrteiligen Tunes immer neue Variationen des Themas und verbinden die diversen Einflüsse so, dass sie unterscheidbar bleiben und doch eine klangliche Einheit bilden. Und Traditionals kommen, wie bereits erwähnt, auch nicht zu kurz. Landor sind Daniel Moser (Wooden Flute, Whistles), Katharina Schwärzer (Geige, Gesang), Matthias Jud (Kontrabass, Bodhrán), Christian Troger (Gitarren, Mandoline) und Gastmusiker Willi Rosner (Udu, Tombac). Und irgendjemand spielt richtig gut Saxofon und Trompete.

Michael A. Schmiedel

 

LANDOR – Griffig


DIE BESONDERE – AFRIKA
FEMI KUTI
Day By Day

(Wrasse 228/Harmonia Mundi, go! www.harmoniamundi.com)
Promo-CD, 12 Tracks, 52:44

Aufregendere Musik als Afrobeat gibt es nicht! Und dies ist kein müder Nachzügler, sondern ein souverän dahingefegter Solitär, den Siebzigerjahre-Alben von Papa Fela ebenbürtig. Mit dem ersten Takt des Openers ist der unwiderstehliche Groove da, Femis Kutis Gesang setzt ein, eindringlich wie immer und wenn endlich die geschliffen scharfen Bläser dazukommen, hat Felas Erstgeborener endgültig gewonnen. In „Do You Know“ fragt er seine Zuhörer erst, ob sie Miles Davis und andere Jazzgrößen kennen. Nach einem furiosen Instrumental voll mitreißender Soli folgt die zweite Frage: „Do you know Fela Anikulapo Kuti?“ Was für eine lässig respektvolle Würdigung der musikalischen Ahnen, was für eine schöne Verbeugung vor dem Mann, dessen Fußstapfen ihm nicht mehr zu groß sind. Vor zehn Jahren, kurz nach dem Tod des Vaters, begann sein Aufstieg zum würdigen Nachfolger. Er profitierte dabei von einer kurzen Phase, in der Afrobeat plötzlich in den Klubs gespielt wurde und zahlreiche Elektrofrickler Elemente des Stils einsetzten. So sah es spätestens nach dem Album Shoki Remixed danach aus, als würden Femis traditionellere Töne mehr und mehr von technoiden Dancebeats überlagert. Doch war letzlich keines seiner Alben so mitreißend wie das vorliegende – womit unmissverständlich noch einmal klar wird, was immer klar war: Der Afrobeat braucht keine neuen Sounds, um ganz und gar modern zu klingen. Auf Day By Day besinnt sich Femi auf die eigentlichen Qualitäten des Stils und präsentiert sie pur und ohne Schnickschnack in 12 höchst abwechslungsreichen Tracks. Musik, so zeitlos immer richtig wie Soul. Und an Curtis Mayfield oder Marvin Gayes „What’s Going On“ erinnern denn auch ganz folgerichtig die manchmal an Naivität grenzenden Politbotschaften in ihrer Klar- und Aufrichtigkeit, aber immer sympathisch und erstaunlich überzeugend. Wann, wenn nicht jetzt, konnte es je Hoffnung für den schwarzen Kontinent geben? „Let’s Make History“ fordert uns der letzte Song auf – yes we can !

Gunnar Geller

 

FEMI KUTI – Day By Day


DIE BESONDERE – NORDAMERIKA
PETE SEEGER
At 89

(Appleseed Recordings APRCD 1113/In-akustik, go! www.in-akustik.com)
32 Tracks, 63:38, mit Texten und Infos

Wenn man Pete Seeger fragt, wie er sein Vermächtnis sieht und wie man sich an ihn erinnern soll, dann bezeichnet er sich als Verbindungsglied in einer Kette von Musikern – von Woody Guthrie über Bob Dylan bis hin zu Bruce Springsteen. Und so ist denn das aktuelle Album ein Vermächtnis des Doyens des American Folksong. Der Titel sagt, wohlgemerkt, nicht „Seeger im Jahr ’89“, sondern im Alter von 89! 32 Tracks, teils live in seiner Blockhütte am geliebten Hudson River, teils im Studio im Laufe seines 89. Lebensjahres aufgenommen. Auf fünf Tracks gibt Seeger Einführungen zu den Songs und man hört, dass die Stimme des großen alten Mannes nicht mehr das ist, was sie früher einmal war. Doch Pete Seeger hat immer noch etwas zu sagen und gelegentlich klingt sein Gesang klar und stahlhart wie zu seinen besten Zeiten. Er ist jedoch so klug, sich von vielen Freunden nicht nur gesanglich, sondern auch mit Instrumenten helfen zu lassen, die Seegers nach wie vor inspiriertem Banjo- und Gitarrespiel gelegentlich Dixielandelemente („False From True“) oder Klezmerklänge und Chorgesang hinzufügen. Seeger und seine Freunde singen „Tsena Tsena“ sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch – eine Mahnung zur Völkerverständigung. Dass Pete Seeger in einem Alter, das zu erreichen nur wenigen Menschen vergönnt ist, immer noch die Energie hat, ein Album einzuspielen, ist alleine schon Grund genug, dieses zu einem „Besonderen“ zu küren. At 89 soll nach dem Willen Seegers seine letzte Einspielung sein, eine Mixtur alter und neuer Songs („If It Can’t Be Reduced“), die fast sieben Jahrzehnte eines der einflussreichsten Folkmusikers reflektieren, wenn nicht des einflussreichsten überhaupt. Ein grandioses Album – man kann nur hoffen, dass die Initiative, Seeger zum Friedensnobelpreis zu verhelfen (www.nobelprize4pete.org) noch zu Lebezeiten dieses großartigen Menschen erfolgreich sein wird.

Ulrich Joosten

 

PETE SEEGER – At 89


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