back Die Besondere

Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder CDs, die aus der Masse herausragen:

DEUTSCHLAND FRANZ JOSEF DEGENHARDT -->  Dreizehnbogen
DEUTSCHLAND/RUSSLAND ALEXANDER PAPERNY -->  Dreams Of Balalaika
ENGLAND SHOW OF HANDS -->  Roots – The Best of Show of Hands
ITALIEN RICCARDO TESI -->  PresenteRemoto
NORDAMERIKA ANAÏS MITCHELL -->  Hymns For The Exiled

BESONDERE – DEUTSCHLAND
FRANZ JOSEF DEGENHARDT
Dreizehnbogen

(Koch Universal Music,go! www.kochuniversal.com, Best.-Nr. CD 1749877)
10 Tracks, 47:40, mit allen Texten und Infos im ausführlichen Booklet

„Niemals etwas anderem dienen / als der Lust und unserem Ziel“ – so formuliert der Großmeister der deutschen Liedermacherei, Franz Josef Degenhardt, seinen kategorischen Imperativ in „An der Quelle“, das gleichzeitig eine Verbeugung vor einem anderen Liederkönig ist, Carl Michael Bellman. All die Jahre hat FJD sie besungen, die großen und die kleinen Schmuddelkinder, die schrägen Gestalten am Bahndamm und in den Eckkneipen, die engen Kaninchenställe und staubigen Viertel, und dabei gleichzeitig den großen Zusammenhang gesehen und poetisch und musikalisch erläutert. Das Private und das Politische bilden in Degenhardts Liedern eine untrennbare Einheit: das kräftige Singen und deftige Feiern mit den Kumpanen auf der einen und die kritische Betrachtung der gesellschaftspolitischen Bedingungen auf der anderen Seite. Dass er die Lösung im Sozialismus sieht, daraus hat der Herr Linksanwalt nie einen Hehl gemacht. Und nun, gerade eineinhalb Jahre nach seinem vorletzten Album Dämmerung , durchweht eine melancholische Grundstimmung die zehn Lieder von Dreizehnbogen . Vielleicht sogar ein Hauch von Abschiednehmen, auf alle Fälle ein Bilanzieren des bislang Gewesenen – „... jeder Kampf, wo ich mich nicht geschont / ... alles hat am Ende sich gelohnt“. Dabei scheint die Lust des Sängers am Leben und am Streiten für eine bessere Welt ungebrochen. Zwar spannt der Nachtvogel für die Letzten vom Gonsbachtal – den altehrwürdigen Barden und seine Kumpane – seine Schwingen weit, doch sind die Speisen üppig geraten, der Wein mundet noch immer, und zu allem erklingen die alten und neuen Lieder. So soll es sein! Hervorzuheben ist unbedingt das fast siebzehnminütige Titelstück: In ihm entfaltet der Troubadour noch einmal all sein Können, sowohl poetischer als auch interpretatorischer Art. Eine fast vergangene Zeit taucht aus dem Nebel auf, greifbar und irritierend, erschreckend und liebenswert zugleich, der Kreis schließt sich. „Die Sonne steht (zwar) längst hinterm Horizont“, doch „ein Lied zum Schluss“ sollte dieses beeindruckende Album nicht sein.

Kai Engelke

 

FRANZ JOSEF DEGENHARDT - Dreizehnbogen


BESONDERE – DEUTSCHLAND/RUSSLAND
ALEXANDER PAPERNY
Dreams Of Balalaika

(Eigenvertrieb,go! www.balalaikarus.de)
19 Tracks, 56:30

BALALAIKA NUEVA
New Art For The People

(Eigenvertrieb,go! www.balalaikarus.de)
12 Tracks, 40:17

Wer bei der Balalaika an uralte russische Musik denkt, liegt nicht wirklich richtig: Vermutlich wurde sie um 1700 von den Mongolen nach Russland gebracht – und gehört damit zu den jüngsten Instrumenten der russischen Musik überhaupt. Einmal da, blieb sie als relativ einfaches Instrument mit ihren drei Saiten lange Zeit ein wenig geachtetes ländliches Instrument. Der Siegeszug der Balalaika, wie wir sie heute kennen, begann erst vor reichlich hundert Jahren, als Gutsbesitzer Andreew aus St. Petersburg aus der Urform ein konzertfähiges Instrument entwickeln ließ. Seitdem wird die Balalaika selbst in der klassischen russischen Musik verwendet, während der Rest Europas sie vor allem als Folkloreinstrument kennt. In noch weiteren Musikarten und Genres – Jazz, Tango, Theater – macht sie seit Jahrzehnten der in der Ukraine geborene, in Moskau studierte und heute in Deutschland lebende Alexander Paperny salonfähig. Mit den Jahren seines Pendelns zwischen den musikalischen Welten haben sich einige Perlen angesammelt – Dreams Of Balalaika -, auf dem vorliegenden Album sowohl solo als auch in Partnerschaft mit Klavier, Gitarre und Bajan. Aufgrund der noch jungen Geschichte der konzertanten Balalaika sind dies bis auf drei moderne Balaikaoriginale Kompositionen aus eigentlich anderen Zusammenhängen: Bach und Mozart, Barock, Folklore aus Südamerika und Europa. Bearbeitet durch russische Balalaikavirtuosen oder Paperny selbst und seinen Gitarristen Wladimir Fridmann, verändert der Künstler mit den klanglichen Eigenheiten des Instruments gekonnt dessen Wirkung. Das Ergebnis ist trotz der Herkunft aus vielen Stil- und Klangepochen ein geschlossen wirkendes Werk – Musik mit Liebe zu Klang und Melodie, kammermusikalische Ereignisse von hoher Intensität. Die werden nur noch um eine weitere Facette erweitert vom ebenfalls 2007 erschienen Balalaikaalbum des 2002 gegründeten Paperny-Trios Balalaika Nueva. Mit Natascha Böttcher (Akkordeon) und Andrej Stepanenko (Bass, Gitarre) wird dort bewiesen, dass die Balalaika auch Popmusik kann. Nur ob diese dadurch auch bereichert wird, bleibt fraglich: Zwischen Klangrausch (Sting) und schaurig (ABBA) bleiben die Stücke Coverversionen von populären Originalen, das sensible und fein abgestimmte Erlebnis der Dreams Of Balalaika wird nicht erreicht. Positive Ausnahme: Die Bearbeitung des Tangomeisters Piazzolla hat eindeutig die Qualität der Dreams ... – wo ja auch bereits drei Piazzolla-Stücke glänzen!

Jürgen Brehme

 

ALEXANDER PAPERNY - Dreams Of Balalaika


BESONDERE – ENGLAND
SHOW OF HANDS
Roots – The Best of Show of Hands

(Hands On Music HMCD28/Proper Music/Rough Trade,go! www.roughtrade.de)
Do-CD, 30 Tracks, 153:39, mit unvollständigen engl. Texten u. Infos

Die beiden englischen Herren, zunehmend mit Miranda Sykes aktiv, mag man entweder – wie der Rezensent -, oder man mag sie nicht so sehr. Zeitgenossen, auf die Letzteres zutrifft, gibt es auch. Das könnte daran liegen, dass es unzählige Musikliebhaber gibt, die noch gar nicht die Chance hatten, sich eine Meinung zu bilden. Für die – aber natürlich nicht nur sie – haben Show of Hands ein knackiges Paket geschnürt. Schließlich müssen krumme 16 Gruppenjahre gefeiert werden. Also gratuliert man sich auf einem Album selbst und sucht sich dafür seine 16 Lieblingstitel aus. Aber nicht nur aus bereits veröffentlichtem Material, es gibt neben den simplen Auskopplungen auch Neuaufnahmen oder mitreißende Livemitschnitte. Und auf CD Nummer zwei dürfen die Fans ran. Die wurden nämlich via Fanforum „Longdogs“ darum gebeten, sich von jedem SoH-Album einen Lieblingstitel auszusuchen. So etwas nennt man im BWL-Jargon „Käuferbindung“ – und das funktioniert. Wie Gruppe und Fans es geschafft haben, dass sich das Material auf beiden CDs nicht überschneidet, bleibt Produzentengeheimnis. Jedenfalls aber ist diese Best-of-Mischung auf diese Weise ziemlich nah am Ideal. Wenn man dann noch bedenkt, dass SoH-CDs immer vorbildlich ausgestattet sind, gestalterisch mustergültig aussehen und die Gruppe konstant dafür sorgt, dass man auch quantitativ etwas für sein Geld geboten bekommt, dann spricht doch für die noch in Unkenntnis der Show-of-Hands-Musik Lebenden eigentlich nichts mehr dagegen, sich dieses Werk zuzulegen, um zu einem eigenen Urteil zu kommen. Dass das dann ein begeistertes sein wird, dafür sind die Chancen ziemlich hoch.

Mike Kamp

 

SHOW OF HANDS - Roots – The Best of Show of Hands


BESONDERE – ITALIEN
RICCARDO TESI
PresenteRemoto

(Felmay fy 8136/Just Records Babelsberg,go! www.just-records-babelsberg.de)
14 Tracks, 66:30, mit Infos

Dreißig Jahre steht der bekannteste Melodeonspieler Italiens mit seinem diatonischen Akkordeon schon auf der Bühne. Zeit für eine Rückblende in Form eines neuen Albums, das die ganze Bandbreite des Schaffens des Toskaners auslotet, Zeit aber auch, zum Jubiläum Weggefährten seiner Karriere und Musiker, mit denen er schon lange gerne zusammengearbeitet hätte, einzuladen. An vorderster Stelle präsent sind natürlich die Mitmusiker seiner Banditaliana – Gitarre, Bass, Saxofon -, die den Meister wie immer hochinspiriert unterstützen. Unter den weiteren Gästen finden wir den neapolitanischen Saxofonexzentriker Daniele Sepe, den sardischen Saxofonisten Gavino Murgia und den Klarinettisten Gabriele Mirabassi. Die Instrumentenaufzählung täuscht nicht: Tesi hat seinem Cocktail aus Tango, Film-, Weltmusik und wohlig wärmender Italianità dieses Mal einen guten Schuss Jazz beigefügt. Während er Crinali , sein letztes Bandprojekt, der Volksmusik des Apennins widmete, lässt er auf PresenteRemoto seiner Kreativität freien Lauf. Leise, melancholische Stücke stellt er fröhlichen Nummern mit funkigen Einschüben gegenüber. Immer jedoch hören wir Riccardo Tesi. Und, ja, PresenteRemoto ist auch ein Folkalbum. Natürlich auch, weil Gianmaria Testa und Ginevra di Marco stimmige Versionen der Werke von Tesis früheren Weggefährten und Inspirationsquellen, Fabbrizio de Andrè und Ivano Fossati, singen. Und da ist auch die sardische Sängerin Elena Ledda in der wunderschönen Ledda/Tesi-Kompostion „Prata E Oru“ zu hören. Nicht fehlen bei diesem Musikfest darf Tesis Lieblingsmandolinist Patrick Vaillant aus Nizza, der einzige Nicht-Italiener dieses Musikergipfeltreffens. Möge Riccardo Tesi noch weitere dreißig Jahre Spaß mit seinem Melodeon haben!

Martin Steiner

 

RICCARDO TESI - PresenteRemoto


BESONDERE – NORDAMERIKA
ANAÏS MITCHELL
Hymns For The Exiled

(Righteous Babe Records RBR060/Rough Trade,go! www.roughtrade.de)
11 Tracks, 38:39, mit engl. Texten u. Liner Notes der Künstlerin

Wenn auch spät, so doch angesichts des Islam-Themas noch gut in der Zeit: die Deutschland-Veröffentlichung des zweiten Albums der bei der Einspielung 2004 23-jährigen Politik- und Geschichtsstudentin aus Vermont, Kanada. Während ihres Examens aufgenommen mit einfachem Equipment, immer im Wechsel zwischen Unibibliothek und einer alten Mühle, dort betreut vom Freund und Produzenten Michael Chorney. Eine ganz unaufgeregte, aber aus innerer Spannung drängende Sammlung von Gitarrenliedern ist so entstanden: Anaïs Mitchell erzählt persönliche, welthaltige, nie zu intime Geschichten. Sie hat ein bisschen von Cindy Lauper in der hohen Stimme, Kindliches, manchmal Eifriges, frech klingt sie seltener als spottend, traurig und böse. Gebündelte Momente: der Tod eines Schlagzeugers, der nach Tagen in seiner Wohnung gefunden wird („Orion“), das Kleid der Großmutter aus Zeiten, wo die Frauen zu Hause bleiben mussten, jetzt zum Nächtedurchtanzen getragen. Diese Miniaturen lassen sich leicht unterschätzen: Mitchell kennt ein bisschen mehr von der Welt als das rebellische Südstaaten-Collegegirl, mit dessen Klischee sie spielt, war in Europa zum Studium und in Mittelost – der Umgang mit der arabischen Kultur, dem Islam, dem „Mann mit den hundert Namen“ ist eins ihrer Themen. „Vor den Augen der geschichtenerzählenden Mädchen“ – auf die keiner hört – fällt auf der TV-Mattscheibe Bagdad. „Ich schrieb einige der Nummern für Hymns in Kairo, ... während zu Hause die Landschaft sich in Richtung Hässlichkeit und Korporation verwandelte. Und dann der 11. September ...“, schreibt sie zum Album – das eine Auseinandersetzung einer klugen Beobachterin wurde mit der „Heimat da drüben“, Hymnen einer Exilierten. Musikalisch vertraut, nicht wagemutig, aber schnörkellos, ist Hymns For the Exiled der poetische Bericht aus einer Gegenwart bar von Klischees und Phrasen.

Manfred Maurenbrecher

 

ANAÏS MITCHELL - Hymns For The Exiled


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