back Die Besondere

Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder CDs, die aus der Masse herausragen:

DEUTSCHLAND KANNEMANN -->  Von Liebe und Kanaken
EUROPA GERMÁN DÍAZ -->  (O Sea, Pi) Música Para Manivelas
EUROPA TAKSIM TRIO -->  Taksim Trio
NORDAMERIKA DIVERSE -->  More Dirty Laundry – The Soul Of Black Country
AFRIKA DIVERSE -->  Many Lessons

BESONDERE DEUTSCHLAND
KANNEMANN
Von Liebe und Kanaken

(Eigenverlag,go! www.kannemann-musik.de)
13 Tracks, 60:43, mit allen Texten und Infos

Nils Kannemann sieht aus, wie der junge Neil Young, und ein bisschen hört er sich auch so an. Aber um Missverständnissen vorzubeugen: Kannemann ist ganz offensichtlich ausschließlich er selbst. Ein Hamburger Straßenmusikant mit einer rockverwandten, deftig-kraftvollen Gitarrentechnik – er benutzt häufig offene Stimmungen – und einer ausdrucksstarken Stimme. Mehr benötigt er nicht, um seinen leicht kantigen Hamburger Charme zu entfalten. Höchstens ab und zu noch ein paar Bluesharpklänge. Kannemann singt ausschließlich seine eigenen Lieder, und die handeln von seiner Oma und vom Elend des Mannseins, von der Liebe und dem Meer, von Schiffen und Eckenstehern, von Heringen und von seiner Heimatstadt Hamburg. Originelle, ernste und wirklich witzige Texte zu eigenständigen Melodien. Kannemann verfällt nicht, wie viele seiner Liedermacherkollegen, in kummervolles Weltschmerzgesäusel. Stattdessen guckt er genau hin, betrachtet das Detail, das ja ohnehin Teil des Ganzen ist. So bleibt er bei sich und verliert sich inhaltlich nicht in Zeit und Raum. Man glaubt ihm, was er singt. Da ist nichts Gekünsteltes, nichts auf vordergründige Wirkung Bedachtes, keine falsche Romantik, „ohne Spachtel im Gesicht“, singt er. Alles echt. Der Mann scheint mit sich selbst im Reinen zu sein. Beneidenswert! Von Liebe und Kanaken hat er seine CD genannt. Als Kanaken bezeichnen sich viele seiner Freunde „mit Migrationshintergrund“ selbst; na, und hätte er seinem Album den Titel „Gänseblümchen“ gegeben, wäre er wohl lange nicht so häufig auf sein Werk angesprochen worden, meint er lakonisch. Zeitweilig fühlt sich der Hörer an Funny van Dannen erinnert, manchmal auch an Rio Reiser. Aber – wie gesagt – Kannemann ist Kannemann. Der verhaltene Applaus zwischen den einzelnen Songs (es handelt sich um eine technisch einwandfreie Liveaufnahme im Bergedorfer Jazzklub) steht in seltsamem Kontrast zu der wunderbaren Intensität, die dieser Künstler zu entfalten versteht. So stelle ich mir einen Singer/Songwriter vor. Und – na klar! – den Blues hat er auch.

Kai Engelke

 

KANNEMANN – Von Liebe und Kanaken


BESONDERE EUROPA
GERMÁN DÍAZ
(O Sea, Pi) Música Para Manivelas

(Producciones Efimeras nube1008/Galileo MC,go! www.galileo-mc.de)
13 Tracks, 51:57

Spielt man das neue Album des galicischen Klangzauberers im PC ab, so erhält man neben den Tracktiteln den Genrehinweis „unclassifiable“. Man muss die Frippertronics für drei Kurbelinstrumente nicht nur gehört, sondern auch gesehen haben, um Díaz’ experimentelle Instrumentalmusik richtig würdigen zu können. Sieht man die Videos auf seiner Website www.germandiaz.net oder bei YouTube, möchte man das Prädikat „unglaublich“ hinzufügen. Díaz kombiniert elektroakustische Drehleier mit zwei mechanischen Instrumenten: einer Spieldose aus dem 18. Jahrhundert und einer kleinen Drehorgel von ca. 1880, die mittels Lochstreifen zum Klingen gebracht werden. Und ein weiteres, allerdings modernes „Instrument“, kommt hinzu: Mit einem digitalen Sampler nimmt Díaz Loops der Instrumente auf, um dann darüber zu improvisieren, stilistisch ausgehend von Folk- und Weltmusik bis hin zum Jazz. Vor allem unter einem Kopfhörer erschließt sich die Grandiosität dieses Klangkosmos, der in der Kombination die Grenzen der verwendeten Instrumente sprengt. Wenn sich die kurz tönenden Klänge der Spieldose ähnlich einem sphärischen Glockenspiel oder Xylofon mit dem lang tönenden, tiefen Saitenklang der Drehleier mischen, hat die Musik durchaus entspannenden, meditativen Charakter. Dann wiederum wird man durch eine an ein nervös blubberndes Akkordeon erinnernde Komposition („Los Cacahuetes Del España“) zum Mitwippen animiert, und fragt sich erneut: Wie zum Teufel hat er das nun wieder angestellt? Ein langes Drehleiersolo („De Tout Ton Coeur“) demonstriert, wie schon das Stück „Sertao“, Díaz’ Virtuosität an dem Instrument. Erst beim elften Stück fällt auf, dass er zum ersten und einzigen Mal ein Charakteristikum des Drehleiersounds einsetzt, nämlich die Schnarrsaite. Mag sie vorher nicht zu den Kompositionen gepasst haben, mit „Himno Bárbaro“ zeigt sich, dass Díaz auch diese Technik meisterhaft beherrscht. Es wäre schön, die Faszination dieser außergewöhnlichen Musik auf einer Konzert-DVD auch visuell erleben zu können.

Ulrich Joosten

 

GERMÁN DÍAZ – (O Sea, Pi) Música Para Manivelas


BESONDERE EUROPA
TAKSIM TRIO
Taksim Trio

(Doublemoon Records DM040/Rough Trade,go! www.roughtrade.de)
15 Tracks, 62:07, mit engl. Infos

Mit schlafwandlerischer Sicherheit weben die drei Istanbuler Ausnahmemusiker ein dichtes Geflecht aus ihrem spielerischen Umgang mit Melodien, die meist von bekannten türkischen Musikern stammen. Sie swingen, trillern, bluesen, schleifen, umspielen. Es ist kaum glaublich, wie nur mit Langhalslaute, Trapezzither und Klarinette ein so intensives und komplettes Werk entstehen kann. Jede Sekunde scheint gefüllt mit Feinheiten, Schwingungen und Schwebungen. Das lässt sich kaum noch etikettieren mit Labels wie Ethno, Jazz, Folk, Klassik: Die Virtuosität des Spiels durchbricht geradezu die Grenzen der Genres, indem sie die Verspieltheit des Jazz und die Präzision der klassischen Musik vereint und in den Orient transportiert. Die Klarinette wird in der Türkei vor allem von Zigeunern gespielt – Hüsnü Senlendirici ist der beste und somit legitime Nachfolger des legendären Mustafa Kandirali. Die Trapezzither Kanun und die Langhalslaute Baglama legen manchmal kleine akkordische Teppiche, brillieren aber auch im solistischen Spiel. Die Melodien gehen förmlich auf in Nuancierungen und Variationen. Es gibt Parallelimprovisationen und Tempoverlagerung im Ensemblespiel – gerade solche Kunststücke belegen die Kapazität der beteiligten Musiker und wie gut sie aufeinander eingespielt sind. Obwohl es in der Türkei eine Vielzahl von außerordentlichen Musikern gibt, sind Alben dieser Güte selten ...

Birger Gesthuisen

 

TAKSIM TRIO – Taksim Trio


BESONDERE NORDAMERIKA
DIVERSE
More Dirty Laundry – The Soul Of Black Country

(Trikont US-0367/Indigo,go! www.indigo.de)
24 Tracks, 71:16, mit ausführlichsten dt. u. engl. Infos

„She Thinks I Still Care“! „You Must Think My Heart Has Swinging Doors“! „Touch Your Woman“! Auch Binsenweisheiten muss man sich gelegentlich mal wieder vergegenwärtigen: Die besten Themensampler der Welt in Sachen Popmusik kommen aus München, Schluss, fertig, aus! Nicht, dass die Musik solcher Editionen wie Dope & Glory, La Paloma oder Rare Schellacks unbedingt besser wäre als bei vergleichbaren Zusammenstellungen – das ist schließlich Geschmackssache. Aber niemand hat abgefahrenere Blickwinkel als die beseelten Trikont-Kreativen, nur wenige – Bear Family – haben mehr Fakten an der Hand, keiner editiert runder. Auch bei More Dirty Laundry stimmt wieder alles: die Balance zwischen Ernsthaftigkeit der These und Sinnenfreude beim Durchdeklinieren; der Überfluss an Infos bei gleichzeitiger Verständlichkeit für Otto Normalverschmutzer; der Gegenwert fürs Geld. Vom Witz ganz zu schweigen, und natürlich ist bei dieser zweiten Portion Country von Afroamerikanern mit Schwerpunkt Lug und Trug an und in Tisch und Bett auch die Mischung zwischen Stars und Hits einerseits und großen Unbekannten mit sträflich ungehörten Liebhaberperlen andererseits wieder nicht zu schlagen. O. C. Smiths „The Son Of Hickory Holler’s Tramp“ war 1968 nicht zu entkommen, Interpreten wie James Brown, Ike & Tina Turner, Bobby Womack, Sammy Davis Jr., Ruth Brown oder Solomon Burke – hier alle mit eher unbekannteren Songs ihrer OEuvres vertreten – kennt jeder. Aber was ist mit Andre Williams und diesem Irrsinn: „I know you’ll excuse me / If I say good night“, schnarrt der inzwischen 71-jährige „Dirty Old Man“ der Black Music zum Abschluss eines phantastischen Albums zu nur sehr subtil eingedunkeltem, fast reinem Country – „But I got a promise to fulfill / Thank you for listenin’ to all my troubles / Pardon me, but I got someone to kill“. Das können wir bestätigen! Und dass er von Trikont und irgendjemandem, der etwas mit diesem Geschenk der Labelgötter zu tun hat, jedenfalls nicht reden kann, dazu ...

Christian Beck

 

DIVERSE – More Dirty Laundry – The Soul Of Black Country


BESONDERE AFRIKA
DIVERSE
Many Lessons

(Piranha CD-PIR 2112/Indigo,go! www.indigo.de)
Promo-CD, 14 Tracks, 56:38

Youssou N’Dour machte 2004 einen völlig überraschenden Schwenk, als er mit dem Album Egypt der Hatz gegen den Islam ein Beispiel für dessen Hochkultur und Toleranz entgegenhielt. Von Westafrika lernen heißt, die Zukunft in der Vergangenheit zu entdecken. Dort war und ist der Islam offener und toleranter als sonstwo in der Welt, und das seit achthundert Jahren. Und was die ach so amerikanische Erfindung des Sprechgesangs betrifft: Auch der ist hier bereits älter als die Vereinigten Staaten selbst. Many Lessons bringt beides zusammen: Modernen Hip-Hop, wie er von der Jugend in aller Welt gefeiert wird, verbunden mit der Botschaft, dass Gott die Menschen unabhängig von ihren religiösen Vorstellungen liebt und das westliche Zerrbild vom Islam ein bewusst lanciertes ist. Die Künstler stammen ganz überwiegend aus Senegal (Docta, Backa, Rifo & Lamine Kouyate, General Snipe feat. Kine Thiam, Gokh-Bi System, Gaston feat. Niagass, Dread Skeezo feat. Dread Maxim, Sister Fa, Keur Gui, African Akhlou Bi), daneben der großartige Bantu mit seinem Kollegen Ayuba aus Nigeria, Midnight Shems mit ihrem hochinfektiösen Gesang aus Marokko, Les Ecrocs mit Balafon-gestütztem Reggae-Rap aus Mali und Silatigui mit ihren pazifistischen Texten aus Guinea. Und bei aller inhaltlichen Relevanz ist auf Many Lessons auch noch exzellente Musik, eine, die sich vom Vorbild Amerika weitestgehend emanzipiert hat und nun selbst eines darstellt. Denn bei aller Frische sind die Referenzen an die lokale Musiktradition unüberhörbar, hier gibt es kein überproduziertes Gefummel, keine Rap-Penetranz, sondern klar strukturierte Songs, die alles haben, was sie brauchen, und nichts, was sie nicht brauchen – und die sich auch bei Nicht-Fans des Genres in den Ohren festsetzen. Es sind die geistlosen Führer, die im institutionalisierten Glauben der großen Religionen für Einigkeit in nur einem Punkt gesorgt haben: Intoleranz. Die Menschheit wäre ohne sie viel weiter – Many Lessons ist ein Beitrag dazu, dass sich das herumspricht, ein absolut hörenswertes Album, das man den Fundamentalisten in den Kirchen, Moscheen und Synagogen in Teheran, Köln, Jerusalem, Rom oder Washington D.C. vorspielen sollte.

Luigi Lauer

 

DIVERSE – Many Lessons


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