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44 LENINGRAD
Don Kilianov

(Amadis 02142/Buschfunk, www.buschfunk.com)
12 Tracks, 46:00

Was die DJs in der Russen-Klubszene mit Hilfe von Elektronik, Dubs und Overdubs oder per Knopfdruck erzeugten Rhythmen und Sounds auflegen, geht mehr los? Dafür haben 44 Leningrad eine unverwechselbare eigene Handschrift! Die 1990 gegründete Potsdamer Speedfolkband beherrscht Instrumente und Gesang, hat diese Stimmung im Blut, die zum Tanzen anregt, die Laune hebt, die Menschen mitreißt, und erfindet damit nun auch auf ihrem ersten Album seit fünf Jahren die musikalische Tradition für den heutigen Geschmack ein weiteres mal neu: Verschmelzt russische Folklore mit spannungsreichem Rock, mischt ihr Elemente aus der Karibik wie der Stadion-Fankurve bei, härtet sie klanglich merklich und bringt sie so auf ordentlich Tempo. Auf Album Nummer sieben tritt aber der Punk etwas zurück zugunsten sauberen Männergesangs (Ex-Kultsängerin Jule ist leider nur noch Gast bei der Truppe), einer wunderbaren Trompete und effektvoller Rhythmik. Alle Instrumente - neben Bass, Gitarre, Schlagzeug und Trompete auch Akkordeon und die Balalaika - sind sauber gespielt und gut identifizierbar und, dass die Post-Sowjet-Pioniere sogar besinnliche Walzer können, deuten sie inmitten all der Losgeher mit „Matroschka in Paris“ an und beweisen es mit den „Glocken im Fluss“. Sind natürlich auch gar keine echten Russen - das Russisch klingt einfach zu gut, und dann singen sie auch immer wieder deutsch dazwischen.

Jürgen Brehme

 

44 LENINGRAD - Don Kilianov


ALPCOLOGNE
Alpha

(Westpark Music 87148/Indigo, www.indigo.de)
14 Tracks, 45:56

Das musikalische Zentrum der Alpen ist der Kölner Dom. Den Beweis liefert die Kapelle Alpcologne mit ihrem Debütalbum. Dass es sich bei dem Quartett nicht um einen Karnevalsscherz handelt, wird dabei bereits bei den ersten Tönen klar. Eine großartige Sängerin - aus dem Schäl-Sick-Brass-Umfeld - trifft auf drei Alphornmusiker, die dieses Instrument jenseits von Heidi einsetzen. Sie verbinden den ureigenen kölschen Humor mit Spielkunst, Improvisationsfreude und musikalischer Reife. Da findet sich ein Tango neben einem Walzer, und man ist auch vor Ausflügen in den Ska oder Jazz nicht geschützt. Der Abräumer ist die Coverversion von „These Boots Are Made For Walking“, die auch bei Rock am Ring eine gute Figur abgeben würde. Neben weiteren unerwarteten Klassikern wie „Jambalaya“ oder „La Paloma“ lassen den geneigten Hörer etliche Eigenkomposition des Bandgründers Mitch Hoehler aufhorchen. Wem dann noch nach Karneval ist, der wird mit Willi Ostermanns „Heimweh nach Köln“ getröstet. Alpcologne waren zu Recht für die creole nominiert. Man muss sie live erlebt haben, was leicht möglich ist, da das Quartett nur mit Alphorn und Gesang ein volles Programm bestreiten kann - oder wenigstens das Album kaufen.

Chris Elstrodt

 

ALPCOLOGNE - Alpha


DIVERSE
Tonangeberei - Songs für jedes Alter ab 3

(Trikont US-0369/Indigo, www.indigo.de)
22 Tracks, 66:01, mit dt. Infos

„Geil!“, kommt Helge Schneider nach erstem fiesen Fiepen langsam näher in Robag Wruhmes „Katze Geil“ - und hört nicht wieder auf damit: „Geil! Katze Geil! Geil! K-k-katze Geil! ... „, und immer so weiter, immer so fort. Wie Kinder, wenn sie an etwas Gefallen gefunden haben: bis zum bitteren Ende immer feste druff! Dass das bittere Ende bei diesem teilweise exklusiven etwas anderen Kindersampler für Kinder und Erwachsene vor der Zeit kommen könnte, da sind die engen Song- und Albumformate vor. Viel zu kurz das alles - wenn man sich eines wünscht, dann mehr: mehr von Françoise Cactus in ihrem unwiderstehlichen französischen Akzent gesungenes „Ich bin nackt“ („Ganz nackisch“!!!), mehr „Dicke Bäckerfrau“ (Huss), mehr „Sommerkinder“ (Pastor Leumund feat. Davicito & Julie), mehr „Schlechte Laune“ (Die Braut haut ins Auge). Da wird gerockt, geblödelt, gemotzt, dass es kracht. Unterfordert wird niemand und überfordert nur, wer meint, dass seine Junioren in Watte gepackt gehören und dort den ganzen Tag mit Rolf Zuckowski gefoltert. Gegen derlei Affenliebe, falls so etwas überhaupt etwas mit Liebe zu tun hat, kann man ja gar nicht rabiat genug anknirschen, -fiepen, -schmirgeln und was nicht alles ...

Christian Beck

 

DIVERSE - Tonangeberei - Songs für jedes Alter ab 3


THE DURGAS
Back To The Start

(Cannery Row Records CRR0705/Pool Music & Media Service, www.pool-musik.com)
13 Tracks, 60:35, mit engl. Texten u. Infos

Eine Hippie-Odyssee, eine Dreiecksgeschichte, ein Ziehen um die ganze Welt: Der Grimme-prämierte Film The Big Pink dokumentierte die Saga der Familie Simmersbach, vom Ende der Sechziger bis in die Neunziger. Die Kinder immer mitten im Geschehen. Was ist aus denen geworden? Eine Antwort gibt dieses Album. Zwei Simmersbachs prägen die Songs von The Durgas, Benjii mit seiner faszinierend brüchigen Stimme und den Lyrics und Christopher mit atmosphärischer E-Gitarre. Dazu kommen noch Patrick und der siebenjährige Finn. Sie sind Teil einer großen Musikerfamilie, die „Back To The Start“ eingespielt hat, darunter auch Chuck Prophet. Herausgekommen ist in erster Linie ein Americana-Album, zehn Stücke aufgenommen in Berlin, drei weitere live auf Hawaii. Gemischt hat es Boris Wilsdorf (Einstürzende Neubauten), gemastert Noa Winter Lazerus (Tom Waits). Musik von Reisenden, die aber vor allem geprägt wird durch US-Roots-Musik, durch Soul und Rock ’n’ Roll. Die manchmal mit sperrigen Sounds und Breaks aufwartet. Die Townes Van Zandt gefallen könnte in ihrer melancholischen Grundstimmung. Die trotzdem Raum lässt für Träume davon, wie alles trotz Krieg und Elend doch besser werden könnte.

Volker Dick

 

THE DURGAS - Back To The Start


KLEZMER ALLIANCE
Mir Basaraber

(Oriente RIENCD65/Fenn Music Service, www.fenn-music.de)
17 Tracks, 75:57 mit engl./jidd. Texten

Im Oktober letzten Jahres erschien das erste Album der Klezmer Alliance, und mehr als nur der eine oder andere Freund von Klezmermusik schien, beeindruckt etwa von einem Livekonzert der Gruppe, auf den Erscheinungstermin sehnlichst gewartet zu haben. Altbekannt in der Szene ist eigentlich mindestens die Hälfte dieses Sextetts: Thomas Fritze (Kontrabass), Andreas Schmitges (Gitarre) und Bernd Spehl (Klarinette) bilden seit rund acht Jahren das Kölner Trio A Tickle In The Heart und waren in den letzten Jahren auf etlichen Klezmerfestivals zu Gast, wobei Schmitges immer wieder auch als gern gesehener Tanzmeister wirkt. Als Folge eines monatelangen Feldstudiums in Moldawien im Jahre 2006 wurde das Trio in Kischinew (Chisinau) auf Efim Chorny (Gesang), Susan Gergus (Piano) und den Israeli und Wahlengländer Guy Schalom (Schlagzeug) aufmerksam. Schließlich bildete man eine „Allianz“ aus Bürgern dreier Länder, resultierend in Klezmermusik, der anzumerken ist, was sie ursprünglich war: Nämlich ausschließlich Tanzmusik - wobei dem Rezensenten nicht immer ganz klar war, ob er nun rumänische Tanzmusik auf Jüdisch oder jüdische auf Rumänisch hört. In jedem Fall war diese Gruppe sicher zu Recht die Hauptattraktion der Jüdischen Kulturtage 2007 in München.

Matti Goldschmidt

 

KLEZMER ALLIANCE - Mir Basaraber


KWART
Över Stag

(Emmuty Records CD EM026/Soulfood Music Distribution, www.soulfood-music.de)
13 Tracks, 50:58

Norddeutsche Folkmusik, handgemacht, akustisch eingespielt und authentisch - auf dem vorliegenden Album legt Ralf Gehler einige druckvolle, mitreißende Varianten dafür vor. Er nähert sich der Musik rund um die Ost- und Nordseeküste als Musiker, Musikethnologe und Instrumentenbauer - und natürlich als Norddeutscher. So breit dabei der Dialekt, so wahrhaft die Geschichten und so ostseetief die Melodien, auch die neu komponierten. Der musikalische Drive kommt vor allem von der Kombination der Percussion - Birgit Engel spielt Ungewöhnliches wie Djembe, Schlagbordun, Srutibox, Glocke und singt - mit Borduninstrumenten. Denn Ralf Gehler ist leidenschaftlicher Dudelsackspieler, der aber auch eine Maultrommel nicht scheut. Ebenfalls trägt dazu bei Vivien Zeller (Violine, Gesang). Dieses Trio, alle seit ihrer Jugend mit Klang und Musik und deren Ursprüngen beschäftigt, führt uns durch einige - zu wenige - Tänze der Seeleute und Lieder der Menschen, die mit Blick auf das Meer leb(t)en vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Lässt das mal auf minimalistische Art traurig-dramatisch klingen („Fünf Söhne“), leitet mal den „Kiekbusch“ verspielt mit Kinder- und anderen Stimmen ein. Eine kleine Perle der norddeutschen Musik, die sich selbst Freunde exotischerer Klänge mit Vergnügen anhören können.

Jürgen Brehme

 

KWART - Över Stag


GÜNTER MÄRTENS TRIFFT LADI GEISLER
Anekdoten eines Gitarrenspielers

(Bear Family Records BCD 16092/www.bear-family.de)
10 Tracks, 70:43, mit dt. Infos

Wer ist Ladi Geisler? Die Frage ist wohl berechtigt, da der 2007 stolze achtzig Jahre alt gewordene Gitarrist wohl nur einem gereiften Publikum bekannt sein dürfte. Bert Kaempfert, ja stimmt, „Strangers In The Night“ - das stammt tatsächlich von einem deutschen Orchestermenschen. Ladi Geisler war über Jahre klangprägender Teil dieser Bigband, schrieb eigene europaweit bekannte Hits, begleitete Hildegard Knef Ende der Sechzigerjahre auf ihrer in München aufgenommenen LP Träume heißen Du. All das und noch viel, viel mehr erfährt man, wenn man sich auf dieses überraschende Hörbuch einlässt. Man wird Zeuge einer Zeit, geprägt von Krieg, Wiederaufbau - von den ersten internationalen Gehversuchen deutscher „Schlager“-Musiker. Von interkontinentalen Begegnungen: Les Paul, Joe Pass und Louis Armstrong in Deutschland - und Geisler beim Gegenbesuch in Amerika. Schön ist es, diesem entspannten, freundschaftlichen Gespräch unter Kollegen zu lauschen. Und am allerschönsten sind die im Untertitel des Albums angedeuteten Anekdoten. Mit Humor und Freude erzählte Geschichtchen aus der weiten Welt der Musik, die mit einem Mal so klein wirkt - und menschlich. Doch Einzelheiten werden an dieser Stelle nicht verraten. Das überlassen wir dem sympathischen kleinen Mann mit der großen Gitarre selbst.

Rolf Beydemüller

 

GÜNTER MÄRTENS TRIFFT LADI GEISLER - Anekdoten eines Gitarrenspielers


NO SNAKES IN HEAVEN
Underworld

(No Snakes in Heaven/BSC Music 307.0026.2/Rough Trade, www.roughtrade.de)
11 Tracks, 48:42, mit engl. Texten und Infos

Auf die Gefahr hin, dass dies auch schon zu ihrem Erstling angebracht gewesen wäre, hier aber leider unterlassen wurde: Es gilt, die Ankunft eines Münchener Trios in der ersten Americana-Liga zu feiern - und zwar auf internationaler Ebene. Was die gebürtige Fränkin Micha Voigt (Gitarre, Gesand) mit ihrem Back-up Melanie Kraus (Cello) und Matthias Haupt (Gitarre) hier vorlegen - da kommt selbst manch großer Name aus den USA nicht mit: Es gibt dort wohl glattere und routiniertere Kollegen en masse, aber mit mehr Kraft? Musikalisch und produktionstechnisch sowieso makellos, zeichnet Underworld ein verblüffender Melodienreichtum und ein stupendes stilistisches Spektrum aus - ohne dass deswegen die Linie verloren ginge. Diese Linie, die sie gehen: Rootsmusik allererster Güte, von klassischem Folk bis leicht weggetretenem Indie, höchst intimem Kammerchanson bis reichlich melancholischem Singer/Songwriting und lustvollem Pop. Das alles bei aller Klasse ganz offensichtlich noch nicht in Perfektion erstarrt - und dass Micha von der kräftigen Stimmlage her gern mal wie ein tatsächlicher Micha klingt, ist der Sache auch unbedingt zuträglich: je rätselhafter, je eigener, desto besser ...

Christian Beck

 

NO SNAKES IN HEAVEN - Underworld


PIGOR SINGT BENEDIKT EICHHORN MUSS BEGLEITEN UND DER ULF
Volumen 6

(tacheles!/Roof Music RD2733324/Indigo, www.indigo.de)
24 Tracks, 69:54, mit Texten

„Jeder, der zu Hause einen Drucker stehen hat, mit dem er im Moment nicht ausdrucken kann, der soll aufsteh’n! ... Jeder, der heimlich seinen Computer anschreit, ‚Du Blödmann, jetzt mach’ doch endlich!‘, der soll aufsteh’n!“ Der Aufschrei des von der Industrie allein gelassenen Users, das „Kampflied“ gegen die „Herrschaft der Maschinen“ und ihre Software-Marktstrategen geht am Schluss plötzlich über in das legendäre Songzitat der niederländischen Gruppe bots. Das ironische Spiel mit der Form des Protestsongs hat seinen brillanten Gipfel erreicht: „Nieder mit IT!“ ist einer der Glanzpunkte des Albums. Egal, ob sich Thomas Pigor die zugehörige IT-Branche, junge und inkompetente Führungskräfte, maulende Rentner oder das Wahnsinns-Thema „Zeitverplempern mit Sozialkontakten“ vornimmt - der Magier des Chanson-HipHop und des genial doppelbödigen „Protestsongs“ gegen die Absurditäten des Alltäglichen präsentiert sich zusammen mit seinen musikalischen Begleitern auch auf seinem sechsten Album wieder in Bestform. Wunderbar komisch seine trotzige „Laudatio“ auf die „schluffige“ Generation der „Kevins“: Eines Tages wird ein Kevin im Kanzleramt angekommen sein. Und ein anderer Kevin wird uns womöglich schon bald operieren, auch wenn er das Wort „Chirurg“ noch nicht richtig buchstabieren kann.

Karl-Heinz Schmieding

 

PIGOR SINGT BENEDIKT EICHHORN MUSS BEGLEITEN UND DER ULF - Volumen 6


STROM & WASSER
Farbengeil

(Traumton Records Traumton 4511/Indigo, www.traumton.de)
17 Tracks, 57:55, mit Texten

„Akustischer Randfiguren-Skapunkpolkarock“, „Apokalyptische Volksmusik“, „Punk-Kabarett“ eines „Radikalpoeten“ - es mangelt nicht an treffenden Formulierungen, die den Liedermacher Heinz Ratz und seine Formation Strom & Wasser begrifflich einzuordnen versuchen. Liedermacher? Eigentlich passt der Begriff ja überhaupt nicht. Und doch gibt Ratz dieser Zunft in Wort und Musik neue Impulse, auch wenn sie für Mainstreamohren zunächst recht ungewohnt klingen. Auf seinem neuen Album dominiert einerseits wieder der wortgewaltige, atemlos gegen Sexismus, soziale Ungerechtigkeit und verkrustete Machtstrukturen skandierende Sprechsänger. Dass der sich laut und zynisch gebende Künstler aber genau so ein Poet der leisen und differenzierten Töne - auch musikalisch! - und ein Träumer sein kann, dass er in Wahrheit sehr verletzlich ist und bei aller Bissigkeit am Ende doch ein Menschenfreund, das belegen die neuen Lieder ebenso. Sehr berührend: das einem behinderten Kind gewidmete Lied „Träumerchen“. „Ich bin eine Ratte“ formuliert der Dichtersänger in Anspielung auf seinen bürgerlichen Namen im Lied „Rote Milanin“: „Krallen sind aus Eisen - Seele ist aus Watte“. „Farbengeil“, erläutert er an anderer Stelle den Titel, sei die anarchistische Sehnsucht und Begierde unseres Herzens, „alles bunt zu färben, was sich grau gefällt“.

Karl-Heinz Schmieding

 

STROM & WASSER - Farbengeil

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