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RUNRIG
Everything You See

(Columbia/Sony 88697080952, www.runrig.co.uk)
11 Tracks, 49:04, mit engl. Texten

Mittendrin im vierten Jahrezehnt ihres Bestehens legen die schottischen Folkrocker wieder ihre alljährliche CD vor. Der Opener „Year Of The Flood“ ist wie die meisten Tracks voller typischer Runrig-Sounds und Harmonien, weit wie der Minch zwischen der Isle Of Syke und den Äußeren Hebriden. Und so geht es weiter. Schön auch „Clash Of The Ash“, endlich eine Ode an die Sportart der Highlands, das hockeyähnliche Shinty. Oder „An Dealachadh“, eines der beiden gälischen Stücke, schwermütig und sehnsuchtsvoll wie gewohnt - und Julie Fowlis, der neue gälische Star (s. a. Rezension weiter hinten in diesem Heft) singt Harmonien. Die weiteren Zutaten sind bekannt: Bruce Guthros mittlerweile markenzeichenartiger Gesang, druckvolle Rockbegleitung, lokale Chöre werden ins Studio geholt und die Macdonald-Brüder haben bei der Autorenschaft die Zügel wieder straff angezogen - nichts geht ohne sie. Das resultiert in einer weiteren Runrig-Eigenheit: Nicht alle Stücke erschließen sich sofort (z. B. „Something’s Got To Give“), lassen einen nach mehrfachem Hören aber nicht mehr los.

Nichts wirklich Neues also von Runrig - und gerade das wird die Fans der Band freuen.

Genau wie die Tour durch neun deutsche Städte im November. Oder die beiden Termine im Juli.

Mike Kamp

 

RUNRIG - Everything You See


MIQUEL GIL
En Concert

(Galileo MC 020)
CD + DVD, 11 tracks, 70:46

Miquel Gil, einer der markantesten Sänger Spaniens, ergänzt sein künstlerisches Opus durch einen Livemitschnitt aus dem Theatersaal des Conservatoriums in Manresa und verwirklicht sich zur gleichen Zeit einen Traum. Musik des Mittelmeerraumes, eine Art Ökumene der verschiedensten Stile. Lieder und Klänge aus Spanien, Griechenland und Marokko. Er selbst sprach unlängst in einem Interview von den drei Scheitelpunkten mediterraner Musik: dem Raï, der Rembetika und dem Flamenco. Damit diese ambitionierte Fusion gelingen kann, hat er die besten ihrer Zunft geladen. Die griechische Sängerin Savina Yannatou und das Ensemble Primavera en Salonico, den Sänger Ayoub Bout und den Percussionisten Mohamed Soulimane vom Orquestra Àrab de Barcelona, zwei Musiker aus der marokkanischen Gnawatradition und das Bläserquartett Quartet de Vents. Mit von der Partie sind natürlich auch spanische Künstler, die ihn schon auf den letzten beiden Alben begleiteten wie z. B. Eduard Navarro, Musiker bei L’Ham de Foc, der u. a. die Dolzaine bläst. Das Repertoire setzt sich vorwiegend aus Titeln der Vorgänger Katà und Orgànic zusammen. Einige neue Nummern sind wohl Vorwegnahmen einer kommenden CD. Neben der akustischen Perle bietet der Digipack gleich noch eine DVD 5.1 gleichen Inhalts. Also, Musik zum Hören und Schauen. Um es kurz zu machen: Besser geht’s nicht.

Rolf Beydemüller

 

MIQUEL GIL - En Concert


JOHAN MEIJER
Tilsit - Europeana

(Nederossi N0P070102; www.nederossi.com)
19 Tracks, 64:54, mit Texten und Infos

Johan Meijer ist einfach ein wunderbarer Sänger und Interpret. Auch seine neue Produktion überzeugt wie schon die Vorgänger Von der Maas bis an die Memel und Vaarwater. Auch Tilsit ist geprägt von emotionaler Tiefe und Anteilnahme an menschlichen Schicksalen aus ganz Europa. Meijer betont musikalisch seine Überzeugung, dass aus Europa irgendwann mal eine Einheit werden könnte und nimmt die Memelstadt Tilsit als Symbol für die Völkerverständigung zwischen Ost und West, Nord und Süd. Noch ist Polen, ist Europa nicht verloren, und Meijer macht sich daran, zumindest musikalisch eine Einheit herzustellen mit Liedern und Musik, die man - wie der Untertitel der CD sagt - „Europeana“ nennen könnte. Wiederum stammen sie von Meijer selbst, aber auch von Wolf Biermann, Gerhard Gundermann, Vladimir Vyssotzki und anderen, auf Niederländisch gesungen. Musikalisch überzeugt diese Mixtur aus Folk, Pop und Chansonelementen, wiederum prägt zwar Sergey Shukarows Akkordeon den Gesamtsound, aber es wäre ungerecht, die Verdienste der anderen Musiker schmälern zu wollen, die den ausgefuchsten Arrangements mit Oboe, Piano, Querflöte, Bassgitarre, Geigen, Tenorsaxophon, Trompeten, Mandoline, Dobor und Bouzouki Leben einhauchen.

Derzeit plant Meijer, die nicht aus dem deutschen übersetzten Lieder seiner CDs in deutscher Sprache als Doppelalbum herauszubringen. Man darf sehr gespannt sein.

Ulrich Joosten

 

JOHAN MEIJER - Tilsit - Europeana


BRATSCH
Plein Du Monde

(Abacaba Ed./EMI France/Capitol Germany 094638701026, www.bratsch.com)
15 Tracks, 54:57, m. franz. Infos

Über 30 Jahre im Metier - und noch immer putzmunter und ideenreich. Im Gepäck zu ihrer im Frühjahr absolvierten Deutschlandtournee hatten die fünf dieses Album, mit dem sie eigentlich „nur“ diverse 25-jährige Jubiläen (u. a. Debüt-LP) feiern. Zu diesem Anlass baten die Bratschisten mehrere Stars der Chanson- und Weltmusikszene mit ins Studio. Nach wie vor steht die Musik (Süd-)Osteuropas und des Mittelmeerraumes im Mittelpunkt. Die Stücke sind teils traditionell, teils Eigenkompositionen - manche sind schon länger im Bratsch-Repertoire. Den flotten Auftakt besorgt Raï-Ikone Khaled, der „Bilovengo“ in Roma [!] singt, die Nouvelle-Chansonette Olivia Ruiz brilliert in dem Sinti-Swing „L’Almée Phénomène“. Typisch sind mehrsprachig gesungene Chansons, z. B. „Oyfn Veg“ (in Jiddisch und Französisch). Dazwischen auch Balkan-Brass-Power zum Abtanzen (z. B. „Au Bar Est Barré Papa“). Faszinierend, wenn einem hebräisch gesungenen Lied (Gastsängerin: die Israelin Nourith) fast unmittelbar und einträchtig ein arabisches (von Khaled interpretiert) folgt - und nichts wirkt aufgesetzt. Einer der vielen Höhepunkte: das in französisch und armenisch gesungene Chanson von „Grandseigneur“ (und Bandfreund) Charles Aznavour. Inhaltlich beschwören Bratsch & Co., wie nicht anders zu erwarten, Lebenslust und Leidenschaft, Freiheit und Toleranz, Freundschaft und Solidarität zwischen den Völkern. Einfach grandios!

Roland Schmitt

 

BRATSCH - Plein Du Monde


CARAVASAR
Alminares Mediterráneos

(Resistencia RESCD196/Galileo, www.caravasar.net)
14 Tracks, 72:13, mit Infos

Sind Spanier die besseren Balkanmusiker, die besseren Rembetes, spielen sie arabische Skalen gefühlvoller als die Musiker dieser Regionen? Die Fragen sind wohl falsch gestellt. Richtig ist, dass das Sextett aus Sevilla die Rhythmen aus dem arabischen und östlichen Mittelmeerraum uns mit westlicher Ästhetik näher bringen möchte. Dies gelingt ihnen auf Alminares Mediterráneos hervorragend. Schon das Eröffnungsstück, basierend auf einem algerischen Traditional, zeigt, wo es lang geht: Da spürt man den Respekt vor der Tradition, aber auch die Liebe zum Jazz. Wie die Gruppe nach zwei Dritteln des Stücks dem Gastpianisten David Morantes Zutritt verschafft, ist große Klasse. Caravasar bringen jeden Ton wunderbar zum Klingen, auch dank der glasklaren Abmischung. Man spürt die Oud geradezu klagen. Selten hört man gefühlvollere Bläsersätze (Saxophone, Klarinette, Ney). Der Einsatz der Perkussions- und der weiteren Saiteninstrumente steht dem in nichts nach. Caravasar sind auch Meister der Pausen. Ihre Musik atmet, wirkt nie überladen. Um die Fragen zu beantworten: Die Spanier legen nicht Wert darauf, schneller als Türken zu blasen. Mein Arbeitskollege aus dem Balkanraum riss mir die CD jedenfalls förmlich aus den Händen. Das sollte Referenz genug sein für ein Album, das beim wiederholten Anhören immer neue Facetten freilegt.

Martin Steiner

 

CARAVASAR - Alminares Mediterráneos


THE WATERSONS
Frost And Fire

(Topic Records TSCD563)
14 Tracks, 30:53, mit engl. Infos

Sound, Sound Your Instruments Of Joy

(Topic Records TSCD564, www.topicrecords.co.uk)
14 Tracks, 37:49, mit engl. Texten und Infos

Zwei äußerst willkommene, sorgfältig remasterte Wiederveröffentlichungen der einflussreichsten A-capella-Gruppe des englischen Folkrevivals. Auf der ersten CD (ursprünglich aus dem Jahr 1965) zelebrieren die Geschwister Waterson plus ihr Cousin John Harrison traditionelle Lieder der Jahreszeiten - direkt, frisch und enthusiastisch. Viele dieser Songs wie z. B. „John Barleycorn“ wurden danach Klassiker für Hunderte von Folkgruppen.

Die zweite CD aus dem Jahre 1977 ist eine der ganz besonderen. Obwohl ich alles andere als ein kirchlich orientierter Mensch bin, hat mich diese Sammlung von religiösen Liedern damals schlicht umgehauen und sie tut es heute noch. Martin Carthy ersetzte J. Harrison nach seiner Heirat mit Norma Waterson, und in dieser Besetzung zeigen sich die Watersons harmonisch und interpretatorisch auf höchstem Niveau. Noch komplexer und druckvoller kommen hier die Harmonien rüber. Die Kraft des Gesangs ist nur noch vergleichbar mit extrem guten Gospelchören, doch hier sind lediglich (lediglich?) vier Engländer am Werk.

Wirkliche Freunde der englischen Folkmusik müssen diese CDs unbedingt besitzen. Die einzige Kritik geht an die Plattenfirma: Warum konnten diese beiden LPs nicht auf einer CD veröffentlicht werden? An der Spieldauer kann es nicht gelegen haben.

Mike Kamp

 

THE WATERSONS - Frost And Fire

THE WATERSONS - Sound, Sound Your Instruments Of Joy


AMBROZIJN
10

(Home Records 4446028, www.homerecords.be)
15 Tracks, 58:47

Ambrosia war die Speise der griechischen Götter, die ihnen ewige Jugend verlieh. Doch wer sich, wie die belgische Band Ambrozijn, auf die ewige Jugend bezieht, wird dennoch älter. Ambrozijn besteht nun schon seit zehn Jahren und hat sich zum Geburtstag ein sehr schönes Geschenk gemacht. Auf der schlicht 10 genannten CD haben sie viele ihrer besten Stücke neu eingespielt - live, mit wechselnden Sängern und Sängerinnen sowie einem kleinen Streichorchester. Ambrozijn ist heute ein Trio, das aus Wouter Vandenabeele (Geige), Tom Theuns (Gitarre, Gesang) und Wim Claeys (Akkordeon) besteht. Bei den ersten CDs war Ludo Vandeau für die Gesangsparts zuständig, der deshalb natürlich auch auf der Jubiläums-CD mit dabei ist, ebenso wie etwa Gabriel Yacoub (Ex-Malicorne), der bereits mehrere Alben der Band produziert hat, oder Soetkin Collier (Urban Trad), Sylvie Berger und Vera Coomans. Die Musik ist, wie meist bei Ambrozijn, unheilvoll dramatisch, die Orchesterarrangements steigern dabei die düstere Grundstimmung noch. Wouter Vandenabeele, der auch das Folkorchester Olla Vogalla leitet, zeigt hier erneut, was für ein guter Arrangeur er ist. Ambrozijn unterstreicht mit diesem Album, dass sie die zurzeit wohl wichtigste Folkband Belgiens sind.

Christian Rath

 

AMBROZIJN - 10


MERCAN DEDE, JADRANKA STOJAKOVIC & MORE
Sevdalinka

(Piranha, Pir2113, www.piranha.de)
Promo-CD, 12 Tracks, 63:57

Sevdalinka ist so etwas wie bosnischer Blues. Die traditionellen Lieder aus Bosnien und Herzegowina handeln von heimlichen Romanzen, erfolglosem Werben um das andere Geschlecht und um Kummer über verlorene Lieben. Sie entwickelten sich auf Hochzeiten, Märkten oder etwa Dorffesten. Das Berliner Weltmusiklabel Piranha hat gemeinsam mit dem Goethe-Institut Sarajewo diese Sammlung von Sevdalinka-Liedern zusammengestellt. Auf dem Sampler mit dem Untertitel „Sarajevo Love Songs“ finden sich sehr unterschiedliche Interpretationen dieses Genres ­- so unterschiedlich wie die Herkunft der Musiker. Manche Stücke sind rein instrumental, andere mit sehnsüchtigen und klagenden Gesängen dominiert. Das Markus-Burger-Dave-Pozzi-Duo verjazzt den Sevdalinka. Die seit fast 20 Jahren in Japan lebende Jadranka Stojavic klagt ihren Sevdalinka begleitet von Musikern aus ihrer neuen Heimat. Bekannt geworden ist die Ex-Jugoslawin 1984, als sie die Hymne der Olympischen Winterspiele in Sarajevo sang. Auch Mercan Dede ist vertreten mit seiner unverwechselbaren sphärisch-elektronischen Sufimusik. Sie ist bei zwei Filmen des Hamburger Regisseurs Fatih Akin zu hören, der in diesen Tagen mit seinem neuesten Werk wieder einmal in Cannes gefeiert wird. Abgefahren und Höhepunkt der Zusammenstellung ist Heinrich Heine à la Bosnia (Track 10).

Natalie Wiesmann

 

MERCAN DEDE, JADRANKA STOJAKOVIC & MORE - Sevdalinka


FIRAU
Di Bi Dä Bi

(Phonag Records 0081352ALP, www.firau.ch)
15 Tracks, 54:08

„For all“, „Forró“, „für alle“ sollen die Tanzveranstaltungen beim Bau der englischen Great-Western-Eisenbahnen im Nordosten Brasiliens gewesen sein. Der Forró wurde zum Tanzrhythmus der Dienstmädchen und Lastwagenfahrer der Region. Angetrieben vom Akkordeon, einer Pauke und einem Triangel hat der Forró die Welt erobert und ist mittlerweile in Obwalden, in den Schweizer Bergen, angekommen. Obwaldner sprechen Forró wie „firau“ aus - und wenn sie Ländlermusiker mit Jazzhintergrund sind und offene Ohren für Rhythmen aus Brasilien und Kuba haben, entsteht daraus „Swiss Rhythm ’n’ Folk“. Da auch der Schweizer Ländler in erster Linie Tanzmusik ist, wird aus der Hochzeit der zwei Musikstile aus dem Hinterland ein Freudenfest. Häufige Rhythmuswechsel und die richtige Dosis Experimentierlust sorgen für viel Abwechslung. Die schweizerischen Büchel, Alphorn und Klarinette verstehen sich glänzend mit den brasilianischen und kubanischen Perkussionsinstrumenten - und das Akkordeon ist ja schon lange das Lieblingsinstrument der Volksmusiker aller Hinterländer. Einziger Minuspunkt sind für mich die banalen Heile-Welt-Texte aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine gelungene Ausnahme bildet der ins obwaldnerische Schweizerdeutsch übersetzte „Xote Da Alegria“. Auch hier wird von Liebe gesungen, doch die tönt echt und körperlich und nicht körperlos und schönfärberisch.

Martin Steiner

 

FIRAU - Di Bi Dä Bi


OISÍN MCAULEY
Far From The Hills Of Donegal

(Compass Records 7 4446 2, www.compassrecords.com)
13 Tracks, 55:49, mit kurzen Infos

Oisín McAuleys Solo-Debütalbum zeigt einen jungen irischen Geiger in musikalischer Hochform. McAuley, den der eine oder andere von der Band Danú her kennen mag, stammt aus dem nordwestlichen Donegal, einer Region, die auf eine lange, sehr spezielle Geigentradition zurückblickt. Tempo und eine ans Schottische erinnernde, sehr aufwendige Bogentechnik, schnelle stakkatierte Läufe spielen hier eine große, die typisch irischen Rolls hingegen kaum eine Rolle. Der charismatische Geiger John Doherty ist einer der großen Namen, die in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert werden, so auch hier von McAuley. Aber seine Musik enthält auch weitere, globale Einflüsse. Tunes aus dem County Clare gehen ihm ebenso leicht von der Hand wie Stücke aus der Bretagne und dem Repertoire der French-Canadian Tradition. Oisín McAuley lebt heute in Boston und erfreut sich neuerdings auch an Newgrass-Tunes. All diese Dinge kommen auf dem Album zur „Sprache“ und vermitteln eine spannende Tour de Force durch die irisch-keltisch geprägte Fiddlewelt. McAuleys Virtuosität, sein in Tempi aller Spielarten immer sehr schöner, prononcierter Ton, geschmackvolle, groovige Arrangements, illustre Gäste wie Piper Ronan Browne, die Gitarristen Shane McGowan und Tony Byrne sowie Peter Molloy (Sohn von Matt - Flute) lassen dies zu einer Aufnahme der Spitzenklasse werden. Mal überschäumend, mal lyrisch - Hörgenuss pur!

Johannes Schiefner

 

OISÍN MCAULEY - Far From The Hills Of Donegal


GNAWA DIFFUSION
Fucking Cowboys

(Discograph/Alive, www.gnawa-diffusion.com)
CD: 11 Tracks, 72:47; DVD: 19 Tracks, 141:09

Was der Titel soll: „Fickende Kuhhirten“ oder „Kuhhirten ficken“ oder „Scheiß Kuhhirten“ oder, stellvertretend, „Scheiß Amis“, worauf so manche Textpassage hindeutet, bleibt wohl das Geheimnis der Multikultiformation aus dem französischen Grénoble. Was die Musik soll, wird hingegen sofort klar: Sie soll Spaß machen und dabei auch noch eine Botschaft unters Volk bringen. Schon die Live-CD lässt einen die sprühende Atmosphäre spüren, die diese Band mit dem Publikum verbindet, denn Gnawa Diffusion sind Feuerwerk und Feierwerk in einem. Was später zu einer wahren Explosion der Musikszene Barcelonas führte, diffundierten die Gnawa-Reggae-Orient-Pop-Rocker schon vor 15 Jahren durch schwingungsanfällige Membrane. Ein Konzert dieser Gruppe ohne schweißnasses T-Shirt durchzustehen, ist kaum möglich, und genau dies vermittelt die DVD: Hier geht es richtig ab, und zwar auf einem Qualitätsniveau, bei dem der Eurovision Song Contest oder DSDS als hoffnungslos schlecht vorauszusortieren wären. CD und DVD zusammen ergeben ein wohlgeschnürtes Paket, das man nach Heiligendamm hätte schicken sollen, um zu zeigen, dass nicht nur das Klingen von Münzen zählt und es noch etwas anderes gibt als schamlose Gewinnmaximierung. Die Freude wird nur durch einen kleinen Aufkleber getrübt, gekürzt übersetzt: „Abschiedsalbum“. Gnawa Diffusion treten ab, und darum ist Fucking Cowboys erst recht ein Pflichtalbum, eines, das man keine Sekunde bereuen wird.

Luigi Lauer

 

GNAWA DIFFUSION - Fucking Cowboys


JULIE FOWLIS
Cuilidh

(Shoeshine Records, www.shoeshine.co.uk)
Promo-CD, 12 Tracks, 43:04

Wenn es momentan eine Künstlerin gibt, die in Schottland, England und z. T. darüber hinaus in den Vordergrund gestellt wird, dann ist es Julie Fowlis von den Äußeren Hebriden. Ursprünglich war sie Sängerin und Multiinstrumentalistin des Damenvierers Dochas, seit gut zwei Jahren ist sie überwiegend solo tätig. Für ihren Zweitling Cuilidh wechselte sie zum Shoeshine-Label, das bezeichnenderweise auch Karine Polwart dabei behilflich war, von Malinky aus als eigenständige Künstlerin über die Folkszene hinaus bekannt zu werden. Diese Tatsache und ein Management in der Grafschaft Devon, also im südlichen England zeigen deutlich, wohin die Reise gehen soll.

Trotz all dieser Ambitionen bleibt Fowlis dankenswerterweise durchgehend der gälischen Sprache treu. Der ärgerlichen, weil stark reduzierten Informationspolitik bei Promo-CDs ist es geschuldet, dass ich nicht sagen kann, ob die Stücke alle traditionell sind, aber sie klingen entsprechend. Ebenso bleibt unklar, wer produziert hat. Meine Vermutung aus der illustren Schar der Begleiter liegt auf John McCusker, der für diesen Job heutzutage sehr begehrt ist.

Eine schöne CD, manchmal vielleicht eine Spur zu schön. Geschmackvoll arrangiert und sauber musiziert, und Julie Fowlis hat überdies einfach eine betörende Stimme, die man mögen muss. Definitiv, wenn man der gälischen Musik nahe steht.

Mike Kamp

 

JULIE FOWLIS - Cuilidh


JUAN CARMONA
Orillas

(Le Chant du Monde/harmonia mundi)
9 Tracks, 45:32, mit span., frz. und engl. Infos

Mit Unterstützung der International Yehudi Menuhin Foundation ist dem Sprössling der Carmona-Dynastie ein ganz und gar bezauberndes Album gelungen. Eine Unzahl von Musikern begleiten den Flamencogitarristen Juan Carmona auf seiner akustischen Reise durch die Welt des Mittelmeerraumes. Orillas - „Ufer“ - hat er ganz richtig eine Begegnung verschiedenster musikalischer Kulturen genannt und eine Synthese geschaffen, die, wie es so schön im Booklet heißt, eine Herausforderung der Schönheit an die Intoleranz darstellt. Schönheit nicht nur als ästhetisch verbindendes Element, sondern als einer von Herzkraft genährten Vision einer überkulturell ausgerichteten Friedenszone kreativ-menschlichen Miteinanders. Stimmen aus dem spanischen, dem nordafrikanisch-arabischen Raum, das Orchesta de Rabat, Flamenco und Gnawatradition - all das und scheinbar noch mehr verbindet sich zu einer aufregenden Soundodyssee, die den Hörer vom ersten Moment an absorbiert. Carmona tritt bescheiden in den Hintergrund, auch wenn er das Album jeweils mit einem puren Gitarrensolo eröffnet und beschließt. Eine der interessantesten Neuerscheinungen im Genre Flamenco seit Jahren.

Rolf Beydemüller

 

JUAN CARMONA - Orillas


IAN PARKER
Where I Belong

(Ruf Records 1120, www.rufrecords.de)
11 Tracks, 60:05

Ein musikalisch weites Feld bearbeitet Ian Parker, und die Bandbreite reicht von flottem, schmissigem Rock über schweren britischen Blues bis hin zu Blues- und Soulballaden.

Herausragend ist Ian Parkers Gefühl für Stimmungen, die oft innerhalb eines Stücks mehrfach umschlagen. So beginnt z. B. „Don’t Hold Back“ wie ein verträumt-schläfriger, leicht psychedelischer Popsong, ein schneidendes Gitarrenriff leitet den Wechsel zu heftigem Rock ein, dann erfolgt die (scheinbare) Beruhigung und führt hin zum furiosen Schluss. Wie auf den bisherigen Alben setzt Ian Parker gekonnt seine wandlungsfähige, sehr ausdrucksstarke Stimme ein. Begleitet wird er von seiner bewährten Band: „Morg“ Morgan (Keyboards), Steve Amadeo (Bass), Wayne Proctor (Schlagzeug). Neu ist diesmal die Unterstützung durch einen Backgroundchor und die Hinzunahme einer Horn Section - immer dann, wenn der Song oder die jeweilige Stimmung durch solch eine Akzentuierung auch etwas hinzugewinnt. Die Texte sind dem Songmaterial angemessen, reichen von tiefgründiger Selbstbetrachtung bis zu fröhlichem Überschwang, sind immer „mit Inhalt“ und dadurch stets hörenswert.

Achim Hennes

 

IAN PARKER - Where I Belong


JOANA AMENDOEIRA
À Flor Da Pele

(HM Música/Galileo, www.joanaamendoeira.com)
13 Tracks, 35:32, mit Texten und Infos

Gewisse Fadokreise wollen den Fado unverändert bewahren, obschon er als Amalgam verschiedenster Kulturen auf die Welt kam. Junge Fadistas gehen neue Wege. Mariza, Mísia oder Cristina Branco unterlegen den Fado mit brasilianischen Streichersätzen oder mischen ihn mit argentinischem Tango. Der Fado darf aber auch bei seinen Wurzeln bleiben, vor allem dann, wenn er von einer tollen jungen Sängerin wie Joana Amendoeira zelebriert wird. Im Zentrum des Albums steht ihre volle, warme Stimme. Die Gitarre, portugiesische Gitarre und der Kontrabass setzen Akzente, nehmen sich aber kaum Raum für solistische Einlagen. Der Produzent Custódio Castelo, Ehemann von Cristina Branco, belässt die Stücke kurz, ganz im Dienst der vertonten Gedichte und der Melodieführung. Einigen der Gedichte, unter anderem von Fernando Pessoa, schrieben die Musiker eigene Fadomelodien auf den Leib. Dank dieser frischen Beigaben wird das Album gefühlvoll, aber nie sentimental. So sollte der Fado im Bairro Alto in Lissabon tönen.

Martin Steiner

 

JOANA AMENDOEIRA - À Flor Da Pele


WINDMILL
Puddle City Racing Lights

(Grönland Records CDGRON62/Cargo, www.cargo-records.de)
Promo-CD 12 Tracks, 46:02

Auf das Label, das der deutsche Popmusik-Großkünstler Nummer eins in London und Berlin betreibt, passt das Debüt Matthew Thomas Dillons alias Windmill schon alleine wegen beider Stimmen: Dem eigenartig gepressten Geknödel Herbert Grönemeyers steht das kindlich quäkende Organ des 26-Jährigen aus dem südostenglischen Newport Pagnell bezüglich Schrägheit und Seltenheit, mit der es in der freien Sänger-Wildbahn vorkommt schon mal nicht nach! Ganz wie beim Chef ist das am Ende allerdings auch beim neuen Zögling keineswegs so nervtötend wie man zu Anfang meinen könnte - dafür passt Dillons Gesang auch zu gut zur Musik: einer Art theatralischer kleiner Americana-Sinfonien mit deutlichem Hang zu Pathos. Aber: feinem kleinem Pathos. Denn im Gegensatz zur Stadionpose großer Brit-Vorläufer wie Queen verfügen die pianodominierten Windmill-Geschichten über eine spürbare Leichtigkeit, ganz offenbare Ironie, reichlich Verspieltheit. Wie es schon das Cover schon - eine regnerische Straßenszenerie zwischen Wolkenkratzern mit einer Handvoll elastisch gespannter Comicmenschlinge. Die Hauptfigur, zwar konspirativ in Maske und Cape, dafür aber mit der entwaffnenden Applikation eines blau leuchtenden kleinen Neon-Herzchens, staunt in den Regen. Märchenwelten aller Art - vor, in und hinter dem Regen. Fluchten, räumlichen wie künstlerischen. Und emotionalen - wozu sollte Popmusik auch sonst gut sein?

Christian Beck

 

WINDMILL - Puddle City Racing Lights


OI VA VOI
dto.

(V2 records, www.oi-va-voi.com)
Promo-CD, 10 Tracks, 40:51

Manchmal erreichen die Redaktion merkwürdige Alben, so etwa ein Promotionsexemplar einer wahrscheinlich in London „beheimateten“ Gruppe namens Oi Va Voi (jiddisch für „oh weh“). Beigelegt wurde ein englischer Text eines gewissen Nigel Williamson (etwa derjenige, der The Rough Guide to Bob Dylan schrieb?). Es ist nicht nachprüfbar, woher Williamson seine Informationen über die Musiker oder die Gruppenhistorie hat, die gruppeneigene Website gibt genauso wenig Auskunft darüber wie etwa das für Deutschland zuständige Promotionsbüro. Natürlich hätte man gerne etwas über die musikalischen und weiteren Hintergründe der einzelnen Musiker berichtet - nur, es war nicht in Erfahrung zu bringen. Dabei spricht die Musik für sich: Ansätze von Klezmer entpuppen sich auf dem dritten Album dieser Formation alsbald als kräftiger (britischer) Folkrock, nicht umsonst gilt die Gruppe in England auf ihren Livekonzerten als „electronic dance act“. Josh Breslaw (Percussion), Lemez Lovas (Trompete), Leo Bryant (Bass), Steve Levi (Klarinette) und Nik Ammar (Gitarre) müssten die aktuelle Besetzung von Oi Va Voi sein, ergänzt durch die frappierende Studiomusikerin Sophie Solomon (Violine) - Letztere bekannt durch das Superalbum Hiphopkhasene (von Solomon & Socalled, vgl. Folker! 04/2007, S. 79). Verbindungen zur israelischen Popszene, hebräische Texte? Alles scheinbare Geheimnisse, die durch das pure Anhören dieses exzellenten Albums nicht zu lüften waren.

Matti Goldschmidt

 

OI VA VOI - dto.

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