back Die besondere CD

Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder CDs und ein Buch, die aus der Masse herausragen:

DAS BESONDERE BUCH VALENTIN CLASTRIER -->  La vielle & l’univers de l’infinie roue-archet
NIEDERLANDE TÖRF -->  Olipodrigo
ISRAEL THE IDAN RAICHEL PROJECT -->  The Idan Raichel Project
DEUTSCHLAND PETER WASSILJEWSKI & DAS LESCHENKO-ORCHESTER -->  Russenball

DAS BESONDERE BUCH
Die Drehleier und die Welt des unendlichen Bogens
VALENTIN CLASTRIER
La vielle & l’univers de l’infinie roue-archet

Parthenay: MODAL, 2006
169 S., mit Noten u. zahlr. Abb. + DVD. (Modal etudes)
ISBN 2-910432-36-X

Es war 1982 in Saint-Chartier auf dem alljährlichen Treffen der Drehleier-, Dudelsackspieler und Instrumentenbauer, als Valentin Clastrier mit seinem Drehleierspiel die gesamte Fachwelt in Erstaunen versetzte. Mit einer für unmöglich gehaltenen Virtuosität und Spieltechnik zeigte er die neuen Dimensionen des Instruments, zugleich aber auch seine große musikalische Kreativität. Obwohl seine Kompositionen nichts Traditionelles hatten, stürzten die Liebhaber der traditionellen Musik an die Plattenstände, seine Schallplatte war im Nu ausverkauft.

Möglich wurde das, weil er die Drehleier nicht als folkloristisches Dekorstück sah, sondern als ernstzunehmendes Musikinstrument, das - wie andere - jahrelang viele Stunden täglichen Übens verlangt. Sein Forscherdrang und seine Experimentierfreude ließen ihn das Instrument weiterentwickeln, und durch seine Kreativität entstanden viele Werke, weltweit aufgeführt und vielfach ausgezeichnet.

Nun ist ihm wieder ein bahnbrechender Schritt zur Aufwertung der Drehleier gelungen: die Analyse der Schlagtechnik, eine Systematik der Schläge und ein System für deren Notation. Die erhöhte Wertschätzung der Drehleier zeigt sich darin, dass Clastrier für dieses Werk ein zweimaliger Künstleraufenthalt in der Abgeschiedenheit der zentralfranzösischen Bergwelt ermöglicht wurde, gefördert von verschiedenen regionalen Organisationen und der EU!

Das Buch ist aufwendig gestaltet, 170 Seiten mit eingelegter DVD, die alleine schon ..., doch dazu später. Mit fast missionarischem Eifer und Pathos setzt Clastrier all seine kreativen Talente ein, malt und zeichnet, dichtet und philosophiert, um die Möglichkeiten eines außergewöhnlichen Musikinstrumentes hervorzuheben. Das ist jedoch nur schmückendes Beiwerk und ohne fundierte Sprachkenntnisse in seinen Feinheiten kaum zu erfassen. Aus dem Blickwinkel eines Drehleier spielenden nicht Franzosen beschränkt man sich daher auf die konkreten Ergebnisse seiner Arbeit.

Zuerst erfahren wir auf einem Dutzend Seiten Clastriers Ansichten über Besaitung, Stimmung (wohltemperiert oder nicht), Baumwolle (oder nicht) und Kolophonium, über Maße von Kurbel und Kurbelknopf und über den Schnarrsteg, für dessen Proportionen er eine „goldene Regel“ aufstellt. (Er konzediert allerdings, dass dieser auch nach anderen Prinzipien funktioniert. Zum Spaß schnitzte ich mir einen - genauso willkürlich - nach dem „Goldenen Schnitt“, und der tat’s ebenso hervorragend wie sein ohne mathematische Regel hergestellter Vorgänger.) Dieser Schnarrsteg und die damit verbundene Technik der rechten oder besser der „Schlag“-Hand (es gibt auch Drehleiern für Linkshänder) steht im Mittelpunkt des Buchs. Für die Melodiehand ist ein späterer Band avisiert.

Das Kapitel über den Fingersatz der Schlaghand ist höchst informativ - das hätte ich gerne 25 Jahre früher gelesen! Clastrier teilt die Schlagtechnik in zentral, vertikal und horizontal ein, je nachdem, ob z. B. der erste Schlag eines Vierers „oben“ in 12-Uhr-Position, in 13.30-Uhr-Position oder 11-Uhr-Position ausgeführt wird. Und er zeigt, wie sich die beteiligten Stellen von Fingern und Hand dann entsprechend ändern. Da wird auch klar, warum die zentrale Ausführung die Muskulatur schneller ermüdet und verkrampft.

Das Kapitel über die verschiedenen Schläge ist umfangreich, sehr komplex und nicht gerade leicht zu erfassen, wie z. B. die Einführung eines „Generateur“ der Schläge, womit er eine bestimmte Grundstruktur eines Schlags versteht. Ein Sechserschlag kann so entweder auf einem Zweier- oder einem Dreierschlag basieren, die Schläge sitzen an derselben Stelle, werden aber unterschiedlich betont. Die Notation zeigt auch das. Die Zahl der möglichen Schlagvariationen ist enorm: Bei der Pfeil-Notation führt er 19 verschiedene an, in Mandalaform stellt er 28 dar, und am Ende dieses Kapitels folgt eine Übersicht mit 86 Beispielen - die sei aber nicht vollständig, meint er.

Wichtig ist noch der Hinweis, dass es sich nicht um ein Übungsbuch mit Lektionen handelt, vielmehr um die wesentlichen Grundlagen für ein Aufzeigen von Wegen, Möglichkeiten und Perspektiven, wie Clastrier in Wort (DVD) und Schrift betont. In den folgenden musikalischen Perspektiven 1 und 2 befasst er sich mit Dynamik, Drehgeschwindigkeit, Dissoziation und Dekompensation, Artikulation und Interpretation sowie mit verschiedenen Kompositionstechniken wie Spiegelung, modalen Filtern und einem Zoomeffekt. Das Buch endet mit der Partitur seiner Komposition „Les Quat’ Verités“ - ob das einmal jemand vom Blatt spielen kann?

Und nun die DVD, einfach großartig! Über eine Stunde sehen und hören wir dem Meister zu. Auf seine sympathische Art stellt er uns seine Kunst vor, lässt die elektronisch abgenommene Drehleier die erstaunlichsten Klänge und Geräusche produzieren und man glaubt ihm: Kein anderes Instrument des Orchesters hat diesen Reichtum an Möglichkeiten. Nach den „Quat’ Verités“ demonstriert er über 20 verschiedene Schläge, wobei bis zu drei Kameras das Geschehen aus verschiedenen Winkeln simultan festhalten. Und mit Standbild, Zeitlupe und Zoom kommen wir den Geheimnissen der Schlagtechnik noch näher - zum Beispiel der verblüffenden Erfindung „Scappata“, wobei der Kurbelknopf teilweise mit den Fingerrücken bewegt wird! Zum Schluss der DVD stellt er sein Instrument mit all seinen eingebauten Raffinessen vor: Instrumentenbauer werden diesen höchst informativen Teil mit Zoom, Zeitlupe und Standbild besonders genießen!

Von Vorteil ist die Aufteilung der DVD in 41 Kapitel, sodass sich die Beispiele einzeln anwählen lassen, ein Verzeichnis muss man sich aber selber anlegen.

Als Resümee wage ich die Behauptung: Valentin Clastrier hat mit diesem Werk der Drehleier den Weg in die Musikhochschulen geebnet, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man Drehleier wie andere Instrumente auch studieren kann. Lehrbuch und Lehrer gibt es nun schon.

Volker Heidemann

Bezug: www.amta.com.fr

 

VALENTIN CLASTRIER - La vielle & l’univers de l’infinie roue-archet


BESONDERE - NIEDERLANDE
TÖRF
Olipodrigo

(Eigenverlag TSP005, www.torf.nl)
13 Tracks, 49:35

Es gibt sie noch, se magischen Momente, in denen man eine neue CD auflegt und schon nach wenigen Takten weiß, dass eine ganz besondere Scheibe im Player rotiert. Das neuen Album der niederländischen Folkband Törf ist so eine Platte. Aushängeschild der bereits seit 1975 nahezu unveränderten Besetzung ist warme, ausdrucksstarke Stimme des Leadsängers Henk Scholte. Neben seinem Gesang wird der Gesamtsound heute wie damals durch weitere Zutaten von hohem Wiedererkennungswert geprägt. Da wäre zum einen das virtuose Dudelsackspiel Flip Rodenburgs (der auch Chalumeaux, Tin Whistle und Backing Vocals beisteuert), zum anderen gefühlvollen Akkordeonklänge Geert Ridderbos sowie erstklassige Saitenarbeit seines Bruders Bert, der Cittern und Gitarre spielt. Das rhythmische Fundament legt Eddy de Jonge an der Bassgitarre.

Auf dem neuen Album wurde das ursprüngliche Törf-Lineup um Jos Kwakmann (Gitarre, Percussion und Dudelsack) sowie Marius Greiner (Geige und Mandoline) ergänzt, und als Septett bieten Groninger nunmehr eine neue musikalische Bandbreite, vom aufpeitschenden, stampfenden Klangteppich in schnellen Rhythmen bis hin zum feinst ziselierten, sehr luftig und transparenten Arrangement eines getragenen, besinnlichen Liedes reicht. Mit der neuen CD hat Törf einen „spanischen Eintopf“ (Olipodrigo) angerichtet, der Musikstile unterschiedlichster Herkunft mischt - italienische, irische, schwedische, Klezmer- und Folkrockeinflüsse, aber alles in allem, wie Band selbst konstatiert, sehr „groningsch“.

Ein Höhepunkt des Albums ist „Loar Mie Heuren“, eine Hommage an Billy Bragg und Woody Guthrie - ein Gänsehautstück und wie gesamte CD ein musikalischer Hochgenuss. Grandios arrangiert, einfach perfekt instrumentiert und in einer glasklaren, absolut professionellen Produktion, selbst audiophile Feinschmecker ansprechen dürfte.

Altmeister haben Messlatte sehr viel höher gelegt, ein solches Meisterwerk dürfte so schnell nicht zu übertreffen sein.

Ulrich Joosten

 

TÖRF - Olipodrigo


BESONDERE - ISRAEL
THE IDAN RAICHEL PROJECT
The Idan Raichel Project

(Exil 86967-2/Indigo, www.exil.de)
12 Tracks, 47:46, engl. und hebr. Texte

Eine solche Mischung hört man auch nicht alle Tage: Pop, Elektrobeats, äthiopische Poesie, Reggae, arabische Weisen, Singer/Songwriter - es ist schon erstaunlich, was Raichel, 29-jähriger Israeli, da alles zusammenrührt. So etwas kann schnell wie beim Restaurantspülwasser von Gestern enden, alles drin und schmeckt nach nichts, profillose, dünne Plörre. Raichel aber hat ein feines Süppchen geköchelt. Er hat Zutaten alle im Griff, und das sind, siehe oben, nicht eben wenige, manche fand er gar in Äthiopien. Er hat Wert auf zahllose (nicht zahnlose) Details gelegt, sich in ihrer Fülle erst beim Abgang durch Kehle erschließen. Nur gelegentlich ziehen Keyboards einen dünnen Fettfilm über Oberfläche, der Wellen beim Goutieren glättet und auf dem man schon mal ins Schlingern gerät. Da hätte man statt extraverginem, kaltgepressten Olivenöl einfach mal eine Chilischote nehmen sollen, ein paar rote Äderchen in Fettaugen treibt. Einmal stutzte ich auch über einen hohen Bordunton, der selbst im nächsten Stück noch zu hören war. Aber das war der ordinäre Teekessel in meiner Küche, ein Kulturbanause, kurz vor dem Verglühen. Denn von sem Album lässt man ungern ab, und schon gar nichts auf dem Teller: Sind Geschmacksknospen einmal sensibilisiert, gibt es kein zurück mehr, point of no return, man will es immer weiter, wie Sex, sein ganzes Leben lang, und wer möchte sich nicht nach einem Zwölf-Gänge-Menü strahlend vor Glück von den irdischen Unwägbarkeiten verabschieden. Idan Raichel serviert se zwölf Gänge, jeder sein eigenes Universum, aber durch eine geheimnisvolle Idee miteinander verbunden. The Idan Raichel Project ist in Israel schon reichlich bekannt, und mit sem Album wird der Mann sicher auch international seinen Platz in der Spitzengastronomie finden - Platz drei der World Music Charts Europe im Februar hat er ja schon geschafft. Doch Welt kann nie genug sein für einen Sterne-Koch. Mahlzeit.

Luigi Lauer

 

THE IDAN RAICHEL PROJECT - The Idan Raichel Project


BESONDERE - DEUTSCHLAND
PETER WASSILJEWSKI & DAS LESCHENKO-ORCHESTER
Russenball

(www.leschenko-orchester.de)
14 Lieder, 50:56, Texte dt/russ

Der Exil-Russe Leschenko war Quelle ses „Orchesters“ (siehe Folker! 02/2005). Während auf der Debüt-CD noch jener Leschenko im Stile seiner Zeit (30-50er) auflebte, zeigt Russenball ganz neue Qualitäten. Unbeirrt von jedweder Kultwelle à la Russenparty wird moderne Eleganz gezeigt, russische Musik auf kammermusikalisches Niveau gehoben. gegene Besetzung (dabei: Piano, drei Violinen, aber keinerlei Schlagzeug) macht es möglich, manchmal fast schon orchestral zu klingen. Allein schon der Opener „Ruta“, ein klassisches ukrainisches Volkslied: beginnend mit dunklem Piano, über das sich der helle Geigenton legt, um daraus Elemente schwungvoller Tradition zu entwickeln. 13 Lieder russisch-ukrainischen Ursprungs, deren Freude und Schwung immer etwas gedämpft sind von Trauer und Abschied. Wassiljewskis Stimme scheint gar nicht anders zu können, als sanft und gefühlvoll zu klingen. Selbst beim schwungvollen „Schneesturm“ gibt es keine Härte, keine Kälte - er singt gefühlvolle Seite des Russen, das Orchester legt Musik wie einen Landschaftsfilm drum herum. Russenball erfreut das musikalische Gehör, spricht von der russischen Melancholie und weckt den Tänzer in jedem Hörer. Zum Abschluss gibt es den „Sentimentalnuj Rap“. Allein schon, weil sich das Russische so gut rappen lässt, wie Peter Wassiljewski sagt. Und vielleicht auch, weil se Musiker nach so viel russischer Tradition zeigen müssen, dass sie auch anders können. Der Text ist aus der kommunistischen Prawda der 30er Jahre und geißelt Dekadenz westlich-bürgerlicher Musik. Musiker können es, auch den Rap können sie auf ihre Weise, ohne Härte. Doch ich hätte den (gelungenen) Stilbruch lieber nicht hinten dran gehabt, er ist ein unsanftes Erwachen aus einer beschwingt-sentimentalen Stimmung.

Jürgen Brehme

 

PETER WASSILJEWSKI & DAS LESCHENKO-ORCHESTER - Russenball


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