PURNIMA SEN
Vocal (Ragas: Khem Kalyan / Megh Malhar / Khamaj)
alle CDs: India Archive Music; mit sehr ausführlichen Booklets (engl.)
(IAM 1068), 4 Tracks, 74:14
MASHKOOR ALI KHAN
Vocal (Ragas: Lalit / Miyan Ki Todi)
(IAM 1069), 4 Tracks, 78:56
ASHWINI BHIDE-DESHPANDE
Vocal (Ragas: Bageshri / Kedar / Jog)
(IAM 1070), 6 Tracks, 75:55
ULHAS KASHALKAR
Vocal (Ragas: Shankara / Sanjh Saravali / Bhairavi)
(IAM 1071), 5 Tracks, 71:31
Eine Hypothese: Wäre Ravi Shankar Sänger, hätte ihn hier im Westen niemand zu
Kenntnis genommen. - Denn selbst der Indischen Klassik wohl gesonnene
Musikfans werden kribbelig, sobald die ersten vokalen Glissandi ertönen. Und
spätestens nach einer Viertelstunde greifen sie entweder zur CD-Fernbedienung
oder zum Garderoben-Chip. - Warum ist das so? Warum erträgt man beim Gesang
nur schwer, was einen zuvor bei Sitar oder Sarod noch so unendlich fasziniert
hat? - Nun, die Antwort scheint banal: weil wir von Kindesbeinen darauf
gedrillt worden sind, "schön" oder, synonym, "richtig" zu singen. Und für das
Wandern zwischen den Tönen gab und gibt es klar definierte Schrittlängen. Wer
von diesem System abweicht, jault oder singt falsch!
Um die vorliegenden vier CDs fair beurteilen zu können, muss man also seine
komplette westliche Musikerziehung eine Zeitlang in die Ecke stellen und sich
vorurteilsfrei auf diesen Gesang einlassen. Wer dies schafft, wird eine ganz
neue musikalische Welt entdecken. Oder, um es mit Shakespeare zu sagen: "Es
gibt mehr Töne zwischen Ganz- und Halbtonschritt, als unsere Musikwissenschaft
sich träumen lässt ..." Wir werden erkennen, dass die Sängerinnen Sen und
Bhide-Dishpande und ihre Kollegen Khan und Kashalkar das mit ihren
Stimmbändern machen, wozu die großen indischen Instrumentalvirtuosen ihre
kunstvoll gefertigten Substitute benötigen. Und ich behaupte: wer sich auf
diesen wundervollen archaischen Gesang einlässt, dem wird zukünftig kein
Musikstil dieser Welt mehr fremd sein.
Walter Bast
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