backDie besondere CD

Wie in jedem Folker gibt es auch diesmal wieder vier CDs, die aus der Masse herausragen:

PORTUGAL ANAMAR, NÉ LADEIRAS, PILAR --> Ao vivo
BELGIEN LES ENFANT DE L'YSER --> Grijsland - Citizens of Death's Grey Land
DEUTSCHLAND G. RAG Y LOS HERMANOS PATCHEKOS --> Cadeau Bizarre
AFRIKA ABYSSINIA INFINITE feat. Ejigayehu "Gigi" Shibabaw --> Zion Roots


PORTUGAL

ANAMAR, NÉ LADEIRAS, PILAR
Ao vivo

(Zona Musica/Galileo ZM00064)
15 Tracks; 64:13; mit Texten

In Portugal liebt man Sängerinnen. Kein Wunder, das Land scheint ein unerschöpfliches Reservoir an Talenten zu haben. Die vorliegende Live-Aufnahme vereinigt gleich drei ausdrucksstarke Stimmen. Da ist Anamar, Liedermacherin und Stimmwunder. Ihr leicht rauchiger Alt meistert mühelos alles vom Fado bis zum Experimentalgesang. Optisch und stimmlich ist sie die Diva des Dreigespanns. Pilar, mit ganzem Namen Pilar Homem de Melo, verbrachte ihre Adoleszenz in Brasilien. Dort wurde sie mit Bossa Nova und der Música Popular Brasileira, offensichtlich aber auch mit dem US-amerikanischen Songwriting vertraut. Wären da keine portugiesischen Texte, könnten manche ihrer Lieder auch von den Indigo Girls gesungen werden. Die dritte im Bunde, Né Ladeiras, schlägt die Brücke zwischen den zwei Polen. Die vom Brasilianer Chico César komponierten Songs "Sinhô" oder "Memórias antigas" sind für mich das Schönste eines an Höhepunkten reichen Albums. Diese Lieder, irgendwo zwischen Portugal, den Kapverden und Brasilien angesiedelt, mit Né Ladeiras warmer Stimme beseelt, sorgen für einen sofortigen Treibhauseffekt in kalten Novembernächten. Die Idee zu diesem Treffen kam vom Poeten Tiago Torres da Silva. Mit einer Ausnahme stammen alle Texte aus seiner Feder. Die sparsame Instrumentierung (ein bis zwei Gitarren sowie afrikanische und afro-brasilianische Perkussionsinstrumente) sorgt dafür, dass die Stimmen immer im Vordergrund bleiben. Die Live-Atmosphäre macht aus den verschiedenen Stücken eine Einheit - trotzdem steht jedes Lied für sich, jedes ist eine kleine Perle. Die einzige Schwäche ist das wenig informative Booklet. In Portugal mag man die Sängerinnen kennen, für den deutschen Markt reichen die wenigen Infos nicht aus. Hätte der Verlag die drei Frauen kurz vorgestellt, statt drei Seiten mit Lobeszitaten über den Auftritt gefüllt, wäre den HörerInnen mehr gedient gewesen. Trotzdem: Besser dieses Album erreicht den deutschen Markt mit spärlichen Infos als gar nicht - eine der schönsten CDs des Jahres wäre uns vorbehalten geblieben.

Martin Steiner

 
ANAMAR, NÉ LADEIRAS, PILAR - Ao vivo

BELGIEN

LES ENFANT DE L'YSER
Grijsland - Citizens of Death's Grey Land

(Vredesconcerten Passendale, VP 004)
16 Tracks, 44:23; CD mit Infos, fläm./engl.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Siegfried Sassoon, junger Mann aus reichem Haus, sofort zur Front, er langweilte sich in seinem Leben als Dandy und wollte etwas erleben. Er wurde nach Ypern geschickt, wo einige der blutigsten Schlachten des Krieges tobten, und wandelte sich im Schützengraben sehr schnell vom Kriegsbejubler zum Kriegsgegner, und weil zuerst niemand seine bissigen "War Poems" drucken wollte, veröffentlichte er einen Aufruf, in dem er die britische Regierung aufforderte, diesen sinnlosen Krieg ganz schnell zu beenden. Was sich für einen Soldaten des glorreichen Empire ja nun gar nicht gehörte, und deshalb wurde erst mal ins Irrenhaus gesteckt, denn nur ein Verrückter konnte diesen großartigen Krieg ja in Zweifel ziehen. Piet Chielens, Leiter des In Flanders Fields-Museums in Ypern und unermüdlicher Mentor flämischer Folkmusik, außerdem einer der führenden Sassoon-Experten außerhalb des UK, machte bereits vor Jahren den flämischen Komponisten Wiet Van de Leest auf Sassoon aufmerksam, Ergebnis: ein Programm aus Van de Leests Vertonungen der Gedichte, das im November 01 in Yperns monumentaler Tuchhalle (von der 1918 nur noch ein Schutt übrig war, die aber originalgetreu wieder aufgebaut wurde) Premiere hatte (der Folker! berichtete). Und jetzt liegt die CD vor - auf der so eine Art Creme de la Creme der flandrischen Folkszene sich ein Stelldichein gibt - nennen wir hier nur den Komponisten selbst, der Geige und Klavier spielt, seinen Bruder Louis, Klavier und Schlagzeug, oder Tom Theuns, Gitarre und Banjo. Und den Rocksänger Thomas Devos, der bei den an Music Hall-Stücke angelehnten Liedern wie "The one legged" man so richtig rotzfrech losträllern darf. Und vor allem die phantastische Sängerin Vera Coomans, mit ihrer an Marianne Faithful erinnernden Stimme, die Sassoons wohl berühmteste Zeile "We died in hell, they called it Paschendaele" ganz einfach Gänsehaut erzeugend in Gesang umsetzt.

(Alles über Siegfried Sassoon im Net: www.sassoonery.demon.co.uk)

Gabriele Haefs

 
ES ENFANT DE L'YSER - Grijsland - Citizens of Death's Grey Land

DEUTSCHLAND

G. RAG Y LOS HERMANOS PATCHEKOS
Cadeau Bizarre

(Gutfeeling Records GF009 / Indigo)
12 Tracks; 40:13, mit knappen Infos

Meisterhaft nehmen Andi Stäbler und seine Hermanos Patchekos den Ball auf, den F.S.K. einst so hinreißend zu spielen wussten, bevor sie ihre musikalischen Murmeln in den Konsolen und Festplatten von Sequenzern und Digi-Programmen zu verlieren begannen! Sie heißen G. Rag, Mr. Zelig, Joey Saufenfucker, José a.k.a. The Black Rider, DJ Ernesto Daniel, Monsieur Uebi, Die Sau, Hias Eichberg a.k.a. Hoss, Nicoletta D. alias La Ninnie, Toni Triola alias Der Stier von Kochel, Senor de la Nowosad und El Doctore - und so spielen sie auch: Ländler, Folk, Karibisches, Country und von da aus alles bis hin zu Hardcore und Punk, mit denen sie in den Achtzigern und Neunzigern wohl aufwuchsen und die sie abseits der One-World-Wiese, über die als G. Rag y Los Hermanos Patchekos tollen, auch heute noch in Neben- oder Hauptprojekten mit Namen wie Analstahl pflegen. Auf ihrem dritten Album "Cadeu Bizarre" bekommt das hochkompetente Spaßguerilla-Treatment der Niederbayern neben Hank Williams' "Rambling Man" und Woody Guthries "Poor Boy" auch Dizzy Gillespies "A Night in Tunesia" zugute, Höhepunkt des Albums ist aber nicht nur für diesen Autor "Temps perdu", das so wohl noch nicht so häufig da gewesene Kunststück, sich als schwerblütige Blaskapelle so federleicht schwebend wie swingend in die Lüfte zu erheben, dass es den Hörer gleich mit aus dem Sessel zieht. Der Kölner Kollege Frank Sawatzki möchte darob am liebsten weinen, und wer das alles nicht glauben mag, der geht am besten sofort auf die Homepage des Bandleaders und Plattenfirmenchefs go! www.gutfeeling.de: Unter dem ebenso schön mehrdeutig wie Band und Musik schillernden Seitennamen findet sich dort auch eine lange Liste herunter ladbarer Hermanos-Patchekos-MP3s. Die können die sagenhafte Qualität von "Cadeau Bizarre" zwar nicht endgültig beweisen, aber doch zumindest eine Ahnung davon geben, was unter den schönsten Kastanien der Welt unter Einfluss der besten Biere der Welt hinter vollbayerisch dissidenten Hirnen neben den bekannten Mainstream-Auswüchsen im günstigsten Falle noch alles entstehen kann.

Christian Beck

 
G. RAG Y LOS HERMANOS PATCHEKOS - Cadeau Bizarre

AFRIKA

ABYSSINIA INFINITE feat. Ejigayehu "Gigi" Shibabaw
Zion Roots

(Network 24.971/Zweitausendeins)
10 Tracks, 53:13; Infos in Deutsch, Französisch und Englisch

Dies ist kein neues Album von Gigi, auch wenn sie im Untertitel ausdrücklich erwähnt wird. Wer kann das wollen, nach ihrem beeindruckenden Afro-Pop-Debüt, dass sie nun so traditionelle Musik unter eigenem Namen macht? Also tauft man das Produkt "Concept Album" und erfindet einen Bandnamen. Strategic Marketing nennt man das wohl, vorgegeben hat es Produzent Bill Laswell himself, und Network muss diese Augenwischerei hinnehmen. Wir nicht: Dies ist das neue Album von Gigi, von wem sonst, und wenigstens sie war so mutig, dem Äthiopop-Kracher-Debüt aus dem Jahr 2001 traditionelle Musik folgen zu lassen und mit ihrem Namen zu unterschreiben. Zu Recht: Ihre Stimme und ihr Gesang heiligen ohnehin alle Mittel, und die hinzugerufenen äthiopischen Musiker machen einen exzellenten Job, auch wenn sie nicht zur Riege der altbekannten Vertreter von Folk und Tradition in Äthiopien gehören. Perkussion, Saxophon, die Flöte Wasint und natürlich die Krar bilden den Rahmen für Gigi, leider fehlt die sehr verbreitete einsaitige Fidel Masinko. Für die anderen Feinheiten sorgen Karsh Kale und Tony Cedras, die auch schon beim Debüt dabei waren. Sechs Lieder hat Gigi selbst geschrieben, die restlichen vier haben als Urheber-Nachweis das Kürzel "trad."; es hätte nicht verwundert, diesen Hinweis bei allen Stücken zu finden, so erdverbunden klingt die Musik. Und doch ist "trad." als sehr moderne Form der Überlieferung zu verstehen, High-Tech im Dienste der Ahnen, zeitlos, zeitlos schön, tausend mal berührt, tausend mal neu fasziniert. Wie man Minimalismus so opulent und füllig gestalten kann, bleibt wohl Bill Laswells Geheimnis. Überhaupt Laswell: Er hat sich auch in dieser wurzelnahen Produktion als erste Wahl erwiesen, seine Eingriffe sind chirurgischer Natur, kleine Schnitte, die keine Narben hinterlassen, ein unsichtbarer Dirigent, der dem ganzen eine unvergleichliche Farbe verleiht, ohne den Stempel "Made By Laswell" draufzudrücken. Fast gewinnt man den Eindruck, er habe sich so weit wie irgend möglich rausgehalten, doch dieser Eindruck kann nur entstehen, wenn sich jemand wirklich eingebracht hat. Für Gigi, diese enorm talentierte und dramatisch schöne Frau, hat er das sicher gerne getan. Ist schließlich seine Frau. Nach dem selbstbetitelten Debüt hat er ihr mit Zion Roots ein zweites, ganz anderes Denkmal gesetzt, und schwer zu sagen, welches schöner ist. Hören muss man beide. Unbedingt.

Luigi Lauer

 
ABYSSINIA INFINITE feat. Ejigayehu "Gigi" Shibabaw - Zion Roots


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