Die Besondere - Europa I
GAI SABER
Electro ch'oc
(Bagarre/Felmay/just records GBAR01)
10 Tracks, 49:28; Texte in okzitan./ital.
Glückliches Wissen bedeutet Gai Saber in okzitanischer Sprache
und die Bekanntschaft mit dieser CD, behaupte ich jetzt, macht auch
glücklich. Das dritte Gai Saber-Album electro ch'oc ist
eine faszinierende Synthese aus roher Volkskultur, modernen Soundbasteleien
und schamlosen Pop-Zitaten. Da werden nicht einfach Breakbeats und Sequenzer
unter die traditionellen Instrumente (Drehleier, Akkordeon, Flöte...)
gemischt, bei Gai Saber überzeugt vor allem die collagenhafte, mit vielen
Samples arbeitende Aufnahmetechnik. Eines der wenigen Folk-Alben, das wirklich
nach heute klingt. Die norditalienische Band kann sicher vom Interesse an
okzitanischer Musik profitieren, dass das Massilia Sound System (MSS) aus
Marseille geweckt hat (siehe Folker 3/2000). Doch während MSS in ihren
Dub-Reggae nur gelegentlich Folk-Samples einflechten, gehen Gai Saber
tatsächlich von traditionellen okzitanischen Song- und Tanzstrukturen
(toll: la dancarèm pus) aus und präsentieren diese im Stil moderner
Clubsounds. Dabei hat die siebenköpfige Band, die ausschließlich
okzitanisch singt, sogar einen kulturpolitischen Anspruch: sie will der alten
Sprache, der die Vergessenheit droht, neues Leben verschaffen. Und sie erinnert
daran, dass sich das historische Verbreitungsgebiet der Langue d'oc (die
der katalanischen Sprache näher steht als dem Französischen) nicht
auf Frankreichs Süden beschränkt. Es gibt auch in den norditalienischen
Alpen von Piemont einige Täler, wo noch okzitanisch gesprochen wird.
Doch schon das an Industriedesign erinnernde CD-Cover zeigt: Gai Saber pflegen
keine romantische Bergdorfidylle. Dieses Album ist ein Meilenstein, nicht
nur der okzitanischen Folkgeschichte.
Christian Rath
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Die Besondere - Europa II
warsaw village band
People´s spring
(JARO 4247-2)
15 Tracks, 64:36; Infos in dt./engl.
Erstaunt darüber, dass ein ganzes Land dabei ist, seine musikalischen
Traditionen zu vergessen, zogen die sechs jungen polnischen Musiker über
die Dörfer. Und die Alten öffneten sich ihnen, nahmen sich Zeit
und gaben sich Mühe, die alten Lieder zu lehren. Wenn die das nicht
machen, macht es keiner mehr. Und sie lehrten das Spiel auf der Suka, der
mit den Fingernägeln zu spielenden Geige, und sie lehrten den "Weißen
Gesang", die Kunst Art der Hirten, aus voller Kehle zu schreien. Und sie
lehrten die europäischen Trommeln, die vom modernen Schlagzeug fast
völlig verdrängt sind.
Als die Musiker sich 1997 zusammentaten, ging es nur um Spaß und
Spontaneität. Einfach zusammen spielen und trommeln, bis man sich auf
einer Wellenlänge zusammenfand. Doch ihre Entdeckungen in den polnischen
Dörfern und das Vertrauen, das ihnen uralte Musiker entgegenbrachten,
hat der Band eine tiefere Bedeutung gegeben. Eine Tradition weiterzuführen,
die es fast schon gar nicht mehr gab, war das eine. Die faszinierende Welt
der ursprünglichen Musizierstile zu entdecken, war das nächste
Erlebnis. Dass man mit alten europäischen Instrumenten eine spannende,
moderne Musik machen kann. Dass sich polnische Liebeslieder, chassidische
Tänze und Dorfpolkas zur meditativen Musik steigern lassen.
Auf einem Bonustitel verbindet die Warsaw Village Band polnische Musik mit
indischen Strukturen, um die Trance-Gemeinsamkeit verschiedener Kulturen
zu zelebrieren. In einem anderen verbinden sie ein dörfliches Liebeslied
mit Dance Floor Grooves eines bekannten polnischen DJs.
Vielleicht ist mancher der alten polnischen Lehrer dieser Musiker erstaunt
über das, was die Band aus der polnischen Folklore gemacht hat. Doch
sie werden sich so viel Lebenskraft, so viel mitreißender Spielfreude
nicht verschließen können. Ich konnte es auch nicht.
Jürgen Brehme
(Ein Porträt der Band demnächst im Folker!)
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